10.09.22

Gnostisches Christentum - Forum für ein gnostisch-rosenkreuzerisches Christentum - 14 Brief

14. Brief, München - September 2022



"Kommt und seht selbst" (Johannes 1, 39)

Briefe zum gnostischen Christentum

14. Brief: Gleichnisse und Wunder in den Evangelien

Das Christentum ist schon 100 Jahre nach seiner Entstehung, wenige Jahrzehnte nach der Kreuzigung und Auferstehung des Christus Jesus und nach Pfingsten, der Erleuchtung seiner Schüler durch den heiligen Geist, aus einer Freiheitsreligion zu einer Herrschaftsreligion geworden. Die Dogmatisierung und Erstarrung lebendiger Erkenntnisse und Erfahrungen setzte ein und wurde dermaßen verfestigt, dass die befreiende Kraft des Christentums durch viele Jahrhunderte, bis zur Gegenwart, nicht mehr wirksam werden konnte. Es lebte höchstens verborgen hinter äußeren Strukturen von Ritualen und Traditionen, oder als bekämpftes Ketzertum weiter. All dies lässt sich als Karma des Christentums begreifen:
Die wesentlichen Aussagen des ursprünglichen Christentums wurden bis zur Unkenntlichkeit entstellt, seine Wirkungen entsprachen nicht mehr den anfangs gelegten Ursachen, und die Rückwirkungen dieser Wirkungen verbargen den Sinn dieser Religion, und die darauf vertrauenden Menschen wurden, statt in eine Befreiung vom irdischen Leben und in ein sinnvolles spirituelles Leben geführt zu werden, erst recht in die Wirrnis des irdischen Lebens hineingezogen. Das ist das Karma, das das ursprüngliche Christentum erlitt: Sein aktueller, durch viele Entstellungen verdunkelter Anblick lässt den hellen, erlösenden Anfang kaum noch vermuten.
Doch heute ist es möglich und geboten, das ursprüngliche Christentum aus seiner Verkrustung und Ohnmacht wieder zu befreien und seine Kraft der Menschheit, die sich fast ausweglos in Schwierigkeiten verheddert hat, wieder zur Verfügung zu stellen.

Wir alle, Menschen der Gegenwart, haben, so oder so, in früheren Zeiten das Karma des Christentums mit verursacht. Es ist dieses karmisch verstrickte, erstarrte Christentum, das vielen Menschen und Gesellschaften auf der ganzen Welt den Atem abschnürt und sie nicht zur Freiheit der lebendigen Erfahrung des ursprünglichen Christentums durchbrechen lässt.
Das Karma ist zwar eine Einrichtung, die aus der göttlichen Welt stammt und durch den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung die irdischen Menschen auf ihre Abweichungen von der göttlichen Wirklichkeit aufmerksam machen will. Doch kann es geschehen, dass die Menschen so sehr darin verstrickt sind, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ihre Abweichungen zu erkennen und den Sinn dieses Karmas zu begreifen. Es wird zu einer verdrängten, unaufgelösten Last in ihrer Seele, aus ihrer eigenen Kraft nicht mehr zu bewältigen. Ihre Lebensfreude und Fähigkeit zur Erkenntnis des Daseinssinns werden erstickt. Eben dies hat das bisher unaufgelöste Karma des Christentums durch viele Jahrhunderte hin bewirkt.
Ist es trotzdem möglich, wenigstens einen Anfang mit der Auflösung dieses Karmas zu machen?

Es geht nicht einmal so sehr um die äußeren Machtstrukturen des Christentums, als um die Verfälschung der ursprünglichen Lehren und Erkenntnisse von Jesus, aus der diese Machtstrukturen überhaupt erst hervorgehen konnten. Schon in der zweiten Generation der ersten Christen war das teilweise Unverständnis der biblischen Evangelien und Briefe so weit verbreitet, das auch ihr Handeln und ihre Organisation die Kraft des ursprünglichen, wahren Christentums nicht mehr zum Ausdruck bringen konnten.

Wie wäre es, wenn wir das Christentum als historisches Ereignis zunächst auf sich beruhen ließen und uns vorstellten, es habe sich, natürlich unter gewandelten Verhältnissen, erst in unserer Gegenwart ereignet? Das wäre ein erster Versuch zur Auflösung dieser karmischen Dogmatisierung und Verfestigung.
Was verstand zum Beispiel Jesus in seiner Gegenwart unter "Glauben"? Wie müssen wir Heutigen den "Glauben" verstehen, den die ersten Schüler von Jesus entwickelten? Stellen wir uns vor, wir würden heute einem Eingeweihten wie Jesus - mit modernem Namen - begegnen, der uns in seine Geistesschule einlüde.
Der "Glaube" der ersten Christen war kein Fürwahrhalten von Dogmen, etwa des Dogmas, dass Jesus Gottes Sohn gewesen sei. Solche Dogmen gab es bei der ersten Begegnung von Jesus mit seinen Schülern noch gar nicht. Glaube war und ist statt dessen aktuelle Offenheit einer Seele für eine Aussage über spirituelle Zusammenhänge. Als erste heutige Schüler-Aspiranten eines solchen Eingeweihten, empfänglich für dessen Lehren und Wesen, würden wir im Herzen die Kraft, die von ihm ausgeht, spüren und wären bereit, sogleich auch die Bestätigung unseres Gefühls durch Anschauung und Verstand zu suchen. Deshalb hatte Jesus zu den ersten Schüler-Aspiranten gesagt: "Kommt und seht!" (Johannes 1, 39). Selbstverständlich wird auch heute ein eventueller Schüler, berührt von einem spirituellen Ruf, die Arbeitsweise und die Umgebung einer Geistesschule mit eigenen Augen prüfen. In Offenheit für die ihm begegnenden Lehren und Kräfte wird er eventuell Bestätigung seines Gefühls durch eigene Anschauung und Erkenntnis suchen und finden. Das war und ist der Glaube.

Der Glaube eines neuen spirituellen Schülers kann nicht nur ein unbewusstes Hineinwachsen in alte Traditionen, kein Gehorsam gegenüber elterlicher oder priesterlicher Autorität sein. Ein Gerufener muss seine Eindrücke an seinen bisherigen Erfahrungen prüfen. "Kommt und seht!" Ein heutiger Gerufener hat zahllose Möglichkeiten, in den Räumen einer Geistesschule deren Atmosphäre zu prüfen und sich in ihrer Literatur mit den Büchern der Lehrer zu befassen. Entsprechen seine Erlebnisse einem inneren Kompass im Herzen, der auf eine ursprüngliche, kraftvolle Wahrheit hinweist?

Die Gleichnisse

Glaube ist unter anderem auch Offenheit der Seele für bildliche Aussagen über geistig-seelische Zusammenhänge. Nur wer eine solche Offenheit besitzt, wird die Gleichnisse Jesu verstehen. In diesem Sinn sagte Jesus zu seinen Schülern: "Selig aber sind eure Augen, weil sie sehen, und eure Ohren, weil sie hören" (Matth. 13, 16). Sind unsere Augen selig und unsere Ohren selig, wenn sie die Gleichnisse der Evangelien in sich aufnehmen? Oder haben wir sie schon so oft gelesen und gehört, dass unsere Augen und Ohren für sie verschlossen sind? "Ach, das kenne ich ja schon!"?
Betrachten wir das erste Gleichnis von den sieben, die in Matthäus 13 erzählt werden. Alle vier Möglichkeiten, den Samen des "Wortes" zu empfangen und darauf zu reagieren, sind Lebensbeschreibungen spiritueller Schüler. Das "Wort" wird vier verschiedenen Schülertypen ins Herz gesät. Sie sind berührt von den "Geheimnissen des Reiches Gottes" (13, 16), wie es Jesus ausdrückt. Der erste Schülertyp pflegt diesen Samen, das "Wort", nicht genügend und lässt ihn, weil ihm zu wenig Verständnis eignet, nicht bewusst in sich keimen. Wenn andere interessante geistige Einflüsse oder Irrwege - "der Böse" (13, 19) - auf ihn einwirken, bleibt er dem Samen nicht treu und überlässt ihn den "Vögeln", die ihn unversehens wegpicken. Sein Leben nimmt nicht die Richtung, die es im Sinn des "Wortes" hätte nehmen sollen oder können.
Bei einem anderen Schülertypus ist das "Wort" nicht tief genug ins Herz gesät worden, und geht aus Schwäche zu Grunde. Solche Schüler hatten es zwar "mit Freuden" (13, 20) aufgenommen. Aber "Trübsal oder Verfolgung" (13, 22) ließen sie wieder die Flucht ergreifen.
Ein dritter Typus lässt sich von den Mühen und Sorgen des Alltags, dem "Trug des Reichtums" (13, 22) - das sind die "Dornen" -, so überwuchern, dass der Same, das zum Weg auffordernde "Wort", darin erstickt.
Nur der vierte Schülertyp reagiert angemessen. Er schenkt dem Samen genug Aufmerksamkeit und Hinwendung. Das "Wort" keimt in seinem Herzen, er versteht es, es wächst, verändert ihn vollständig von innen her und macht ihn neu, zu einem Menschen, der später in der göttlichen Welt aufersteht und seitdem für die noch unentwickelten Menschen arbeiten kann. Er bringt Frucht (13, 23).
Eigentlich ist es nicht schwer, dieses Gleichnis zu verstehen. Es macht den Schüler auf die Gefahren des Weges aufmerksam und hilft ihm, durchzuhalten. Das gilt aber nur, wenn er schon die Fähigkeit, den "Glauben", die Offenheit für die spirituelle Dimension hat. "Wer hat, dem wird gegeben werden, wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen werden, was er hat (13, 12)", hatte Jesus gesagt. Wer sich zu sehr auf die irdischen Dinge konzentriert, wird auch das bisschen Glauben an die spirituelle Dimension, das er vielleicht schon oder noch hat, verlieren.
Und das Schlimmste ist: Er wird das Gleichnis nicht mehr als solches verstehen. Es wird für ihn eine schöne Erzählung aus der Historie bleiben. Und so wird er noch fester als zuvor an die Welt der Dogmatik gebunden werden. Solche seelischen Reaktionen lassen sich irgendwann nicht mehr ändern. Sie sind zum Karma des Betreffenden geworden, das er seitdem mit sich herumschleppt. Darauf bezieht sich Jesaja in dem obigen Zitat (Matthäus 13, 14-15), in dem Gott spricht: "Denn das Herz dieses Volkes ist verstockt und ihre Ohren sind schwerhörig geworden und ihre Augen haben sie geschlossen, so dass sie mit ihren (seelischen) Augen nicht sehen und mit ihren (seelischen Ohren) nicht hören und mit dem Herzen nicht verstehen und sich bekehren, und ich (Gott) sie heile."
Doch Jesus - und ein heutiger Eingeweihter - nimmt das in Kauf und spricht all seine Hörer an. Er kann noch nicht wissen, was sich als Spreu und was als Weizen herausstellen wird. Zunächst wird er alle aufnehmen, die seine Schüler werden wollen. Jeder soll selbst die Chance der eigenen Entscheidung bekommen. Eine irdische Seele mit noch nicht ausreichender Empfänglichkeit für spirituelle Kräfte, wird, wenn sie darüber hört, Widerstand entwickeln und dadurch erst recht ans Irdische gebunden werden. Im Augenblick wird sie nicht geheilt werden können. Sie "wird mit dem Herzen nicht verstehen und sich bekehren." Sie wird erst noch Erfahrungen in der irdischen Welt machen müssen, bis sie, vielleicht, eines Tages für spirituelle Erfahrungen reif sein wird. Das ist keine Unbarmherzigkeit Gottes, es ist Realität und Entscheidungsfreiheit der Seele. Niemand kann und darf zu einem spirituellen Weg gezwungen werden.
Und auch der heutige Eingeweihte erklärt seinen Schülern das scheinbar Selbstverständliche noch einmal, ja, immer wieder. So setzt es sich allmählich in ihren Seelen endgültig fest und wird wirksam.

Von den sieben Gleichnissen in Matthäus 13 bezieht sich das fünfte auf die Zeit des Endes der Welt. Der "Sohn des Menschen", Jesus, hatte während seines Lebens auf einen Acker, die Menschheit, guten Samen gesät. Wer ihn entfaltet, gehört zu den "Söhnen des Reiches", tritt also auf seinem Schülerweg ins Reich der Himmel ein. Auf der anderen Seite gibt es den Teufel, den Feind, der Unkraut sät, aus dem sich die "Söhne des Bösen" entwickeln.
Beide Arten von Persönlichkeiten wachsen, damals wie heute, neben- und durcheinander auf bis zum Ende der Welt, wo die Schnitter, die Engel, die Ernte einsammeln. Alle, die sich nicht so entwickelt haben, wie es der gute Same im Herzen verlangt hätte, alle, die dem Unkrautsamen gefolgt sind, den Tendenzen zur Gesetzlosigkeit und zur Feindschaft gegen Gott - all diese werden "in den Feuerofen geworfen". Das ist ein Bild für die Reaktionen der göttlichen Gesetze auf Gesetzlosigkeit: ein Brennen der Seele in Schuld- oder Reuegefühlen nach dem Tod, bis Einsicht in die während des Lebens gemachten Fehler erfolgt ist.
Der "Feuerofen" ist ein Sinnbild für diesen Seelenbrand, der überdies auch leicht erzeugt werden kann und im Lauf der Zeiten absichtlich erzeugt wurde. Die unzähligen Bilder mit Darstellungen der "Hölle" mit grausamen Teufeln hätten nicht entstehen müssen. Sie haben schwache, ängstliche Seelen erst recht in Angst versetzt und deren Karma und das ihrer religiösen Führer noch verschlimmert. Wer das in den heutigen Kräften eines freien Christentums erkennt und erlebt, löst gerade diese Art des Karmas auf.
Die "Gerechten" dagegen, die sich während des Lebens dem göttlichen Gesetz entsprechend verhalten haben, brauchen dieses Gesetz nicht zu fürchten. Im Gegenteil: Ihre sterblichen irdischen Persönlichkeiten sind schon während des Lebens durch unsterbliche göttliche Persönlichkeiten ersetzt worden, die "im Reich ihres Vaters wie die Sonne" leuchten (13, 43).

Auf diese Weise können alle Gleichnisse des Neuen Testaments auf unser eigenes Leben bezogen und ihre Aussagen zu eigenen Erkenntnissen werden. Das unfruchtbare Karma, das dadurch entstanden ist, dass wir diese Gleichnisse in die Vergangenheit abgeschoben und dadurch ihrer Kraft für unsere eigene Seele beraubt haben, ist aufgelöst. Ein Stück gegenwärtige Erkenntnis, ein Stück der eigenen Seele, des eigenen lebendigen Bewusstseins, ist gewonnen.

Die "Wunder"

Das Karma, das im Christentum unter anderem durch ein Unverständnis der "Wunder" entstanden ist, ist wohl noch schwerer aufzulösen als das der Gleichnisse. Denn die Gläubigen haben die "Wunder" fast immer als historische Taten eines Wundertäters aufgefasst, die ihm besondere Autorität als Gottessohn gaben - von dieser Autorität und unserer Abhängigkeit davon wird noch die Rede sein. Und außerdem haben Gläubige und deren Lehrer meist nicht bemerkt, dass es sich nicht um Wunder im Sinn physikalischer Unmöglichkeiten handelte, sondern dass durch solche Erzählungen geistig-seelische Gesetzmäßigkeiten zum Ausdruck gebracht wurden, die auch das gegenwärtige Leben der Menschen bestimmen. Nehmen wir als Beispiele für die "Wunder" die Speisungen der 5000 und 4000 (Matthäus 14, 13 - 21). Im 9. Brief wurde schon über die Speisung der 5000 gesprochen.
Jesus ließ seine Schüler unter eine große Menschenmenge sieben "Brote" und zwei "Fische" austeilen. Aber beides, Brote und Fische, wurden dadurch nicht weniger. Sie vermehrten sich unerschöpflich. Es gab einmal einen modernen Film, wo dies völlig missverstanden und ganz realistisch dargestellt wurde. Die Brote teilten sich unaufhörlich, ebenso die Fische, und 5000 Menschen wurden satt.
Wenn jemand eine Erkenntnis oder Einsicht weitergibt, wird sie dadurch nicht geringer, im Gegenteil: Sie wird vermehrt. Wenn Jesus an anderer Stelle sich als "Brot des Lebens" bezeichnet, das vom Himmel kommt (Johannes 6, 35), so kann das bis zu einem gewissen Grad auch jeder heutige Eingeweihte sagen. Denn wenn er in Verbindung mit der göttlich-geistigen Welt steht, wird auch von ihm unerschöpfliche geistige Wahrheit als Nahrung für alle Wahrheitssucher ausgehen. Und wenn in der Erzählung "zwei Fische" erwähnt werden, so sind die Fische Sinnbilder für die Opfer der seelischen Kraft jedes Eingeweihten, die er den Menschen unerschöpflich mitteilt. Er gibt ihnen Hoffnung und Mut für ein neues Leben. So stillt er ihren Hunger nach Wahrheit und ihre Sehnsucht nach einem sinnerfüllten Dasein. Da überdies die geistige und seelische Kraft von Jesus damals wie heute wirkt, gelten diese Aussagen unmittelbar auch für uns. Wenn wir uns für seine geistig-seelischen Kräfte öffnen, werden wir sie überreichlich empfangen.
Er, oder ein heutiger Eingeweihter, teilt jedoch Brote und Fische nicht selbst aus, sondern lässt sie sich von seinen Schülern reichen und segnet sie mit einem Dankgebet zum Himmel. Darin zeigt sich, dass er die Quelle seiner geistig-seelischen Kräfte nicht in sich selbst, sondern in der göttlichen Welt sieht. Erst dann werden sie, erfüllt von den Kräften des Himmels, von seinen Schülern an die Wahrheitssucher weitergegeben. Die Schüler sammeln sogar noch zwölf Körbe voll Brotbrocken auf, die übrig geblieben sind. Es zeigt sich somit, dass Jesus seine Schüler schon unterwiesen hatte, wie sie seine Einsichten und Ermutigungen weitergeben mussten, und dass sie bereits gute Mitarbeiter geworden waren.
Übrigens ist auch die Sieben eine symbolische Zahl, und zwar für den siebenfachen Geist, und die Zwei ein Symbol für die Dynamik und Opferbereitschaft der Seele.
Und es zeigt sich drittens, dass die Wirkungen der seelischen Nahrung unzählige sind. Das beweist die Zahl 12 - zwölf Körbe voll Brotbrocken bleiben übrig, der Strom der Wahrheit ist unerschöpflich und setzt sich bis in alle Zukunft fort.
Die Szene hat ein Vorbild schon im Alten Testament, wo sich vor Mose, dem Eingeweihten, ebenfalls eine Volksmenge in verschiedenen Abteilungen gelagert hat. Oft werden solche Szenen im neuen Testament aus dem Alten Testament entwickelt, was auch hier wieder darauf hinweist, dass Jesus der Erfüller des äußeren Gesetzes durch innere Freiheit des Evangeliums ist. Auch das ist ein wesentlicher Gedanke, der im heutigen Leser lebendig werden kann.
Diese Erzählung, durch welche die ersten Christen ihre inneren Erfahrungen in Bildern ausgedrückt haben, lässt uns sozusagen einen Blick in die "literarische Werkstatt" der ersten Schüler des Christentums tun. Darin haben sie ihre lebendigen geistig-seelischen Erfahrungen in Symbolen verarbeitet.

Nun steht schon im folgenden Kapitel bei Matthäus ein Bericht über eine "Speisung der 4000". Ein heutiger kritischer Literaturwissenschaftler wird sagen: "Eine Dublette! Matthäus hat es leider nicht einmal bemerkt." Aber diese "Dublette" hat ihren Sinn. Man sieht es an den Zahlen. 5 ist die Zahl der Seele, 4 die Zahl des Körpers. Auch der neue Körper, in dem die Seele wächst, muss genährt werden. Es bleiben in diesem Zusammenhang außerdem nur 7 Körbe voller Brotbrocken übrig. Alles andere gleicht dem ersten "Wunder" über die 5000 Hungrigen.
Man erkennt gerade an dieser Komposition die meisterliche Hand der Verfasser der Evangelien. Denn im Evangelium des Markus (auf den das Matthäusevangelium zurückgeht) folgt einige Verse nach der Speisung der 5000 die Heilung eines Tauben (Markus 7, 31-37) durch Jesus, und nach der Speisung der 4000 die Heilung eines Blinden (Markus 8, 22- 26). Der Sehsinn ist nach antiker Ansicht dem Körper assoziiert, der Hörsinn besonders der Seele. Jesus besitzt die Kräfte, seelische Blindheit und Taubheit zu heilen. Er heilt sie, nachdem er die Menschen mit seinen geistigen und seelischen Kräften gespeist hat. Deshalb sind auch diese beiden Heilungen sicher keine "Wunder" im Sinn physikalischer Ausnahmevorgänge, sondern Wirkungen der seelisch-geistigen Kräfte Jesu, die in empfänglichen Menschen auf Resonanz gestoßen sind.
Ebenso lassen sich auch scheinbare Spontanheilungen, zum Beispiel eines Aussätzigen, als Sinnbilder für Wirkungen der geistig-seelischen Kräfte Jesu auffassen. Die scheinbare Plötzlichkeit der Heilung zeigt nur um so deutlicher den engen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Deshalb sind auch solche Darstellungen für uns Heutige aktuell, es braucht dazu keinen großen historischen "Wundertäter", der sogar durch Aussatz völlig zerfressene Zellen im Nu wiederherstellen kann.
Wenn "Aussatz" als Bild für völlig gestörte Verhältnisse eines Menschen zum Mitmenschen aufgefasst wird, erschließt sich die Gegenwart dieses "Wunders" als Wirkung der Glaubenskräfte dieses Menschen. Denn dann würden die Kräfte des Christentums, vom Karma befreit, wieder in ihm fließen und die Heilung bewirken. Wer sich auch heute für die Kräfte Jesu öffnet, die in jedem dafür Empfänglichen wirken können, der kann solche Heilungen von Seele und Körper erleben, ohne dass ein "Wundertäter" wie Jesus dahintersteht. Er wird von einer äußeren, historischen Autorität freiwerden können und auf die inneren Jesuskräfte im Herzen vertrauen lernen.

Beide Speisungswunder sind große Gemälde, welche die Arbeit des Meisters mit seinen Schülern für die Menschen auch unserer Gegenwart darstellen. Vom Himmel geht der Strom der göttlichen Kräfte aus, verläuft über den Eingeweihten zu seinen Schülern und zu Wahrheitssuchern in aller Welt, deren Reaktionen wiederum erkennbar werden. Und noch etwas: Wer dieses "Wunder" so versteht, fühlt sich erkennend in diesen Strom mit einbezogen, aus dem nun auch sein eigenes Leben gespeist wird. Er löst ein Stück Karma des Christentums auf, ein Stück toten Fürwahrhaltens einer historischen Erzählung mit einem historischen Eingeweihten. Seine Erkenntnis wächst, sein lebendiges Seelen-Bewusstsein wächst. Das ist lebendiges Christentum. Er löst eine karmische Barriere auf, die den aktuellen spirituellen Weg behindert. Und nicht nur für sich selbst, sondern für alle, die in seiner Umgebung leben.

Die in den Evangelien berichteten spontanen "Heilungen" durch Jesus haben sich in den Gläubigen besonders stark als unnatürliche "Wunder" festgesetzt und verhindern, dass die natürlichen Seelenkräfte Jesu, die auch in seinen Schülern der Gegenwart wirken können, von ihnen erkannt und aufgenommen werden. Wenn Jesus, wie soeben beschrieben, Blinden das Augenlicht und Tauben das Gehör wiedergab, dann waren das nicht unbedingt physische Vorgänge. Denn Blindheit ist in den Evangelien fast immer seelisch-geistige Blindheit, und Taubheit seelisch-geistige Taubheit. Es geht um die Blindheit und Taubheit, die aus einem "verstockten Herzen" folgen und in dem obigen Zitat von Jesaja angesprochen wurden (Matthäus 13, 15) .
Ähnlich ist, wie gesagt, "Aussatz" ein Sinnbild für eine Störung der normalen zwischenmenschlichen Beziehungen. Auch hier wird im Evangelium ein psychischer Heilungsvorgang, der längere Zeit dauern wird, durch eine Szene, kurz wie ein Augenblick, dargestellt. Es kommt nur darauf an, dass diese Darstellung als Sinnbild erkannt wird. Dann wird sie für den heutigen Leser aktuell und befreit ihn von einer karmisch verursachten Gläubigkeit an eine historische Autoritätsperson. Diese dogmatische Gläubigkeit hindert ihn am Vertrauen auf die gegenwärtigen inneren Jesuskräfte im Herzen. Denn diese sind es, die seinen "Aussatz", seine aktuellen gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen, heilen können.


Kommentare bitten wir brieflich oder per E-mail an die Adresse:
Königsdorfer Verlag, Zellwies 11, 82549 Königsdorf, bzw. E-mail-Adresse: www.koenigsdorfer-verlag@web.de zu richten, zu Händen von Konrad Dietzfelbinger.