14.12.22

Gnostisches Christentum - Forum für ein gnostisch-rosenkreuzerisches Christentum - 15 Brief

15. Brief, München - Dezember 2022



"Kommt und seht selbst" (Johannes 1, 39)

Briefe zum gnostischen Christentum

15. Brief

Beginnend mit diesem Brief soll der befreiende Weg des Christentums noch einmal ausführlich an Hand der biblischen Berichte dargestellt werden, die das Leben des Christus Jesus darstellen. Am Anfang stehe die Frage:

Wie und warum hat sich eine höchste göttliche Wesenheit in einem irdischen Kind namens Jesus inkarniert?

Von vielen Theologen wird behauptet, in den biblischen Evangelien sei die Lehre der Inkarnation nicht enthalten. Andere Bibelkenner verweisen unter anderem auf zwei Stellen, an denen die Lehre der Inkarnation vorausgesetzt werden müsse: Johannes 9, 1-2 oder Markus 8, 27-28.
Von einer anderen Stelle des Neuen Testaments ist kaum je die Rede, die deutlich von einer Inkarnation spricht: "Jesus Christus, der, als er in Gottes Gestalt war, es nicht für einen Raub hielt*, wie Gott zu sein, sondern sich selbst entäußerte, indem er Knechtsgestalt annahm und den Menschen ähnlich wurde..." (Philipper 2, 5-7). (*Etwas für einen Raub halten ist eine antike Redewendung, die ausdrückt, dass jemand ein Objekt so verbissen festhält wie einen Raub)
Eine "Gottesgestalt", ein hohes, unsterbliches göttliches Wesen, inkarnierte in eine "Knechtsgestalt", das heißt in einen sterblichen irdischen Menschen. Sie verband sich, wie das bei einer Inkarnation die Regel ist, mit einem etwa drei Monate alten Embryo und verlor dadurch zunächst ihre Ausdrucksmöglichkeit: Sie "entäußerte sich selbst".
Denn diese Gottesgestalt, von der Paulus spricht, war von vornherein frei und musste ihre Freiheit nicht erst auf einem langen Weg gewinnen, wie es bei einer normalen Inkarnation der Fall ist. Sie konnte sich nur vorläufig nicht mehr "ausdrücken".
Der Sinn der normalen Inkarnation eines Geistfunkens ist, dass dieser durch eine Anverwandlung der sterblichen Persönlichkeit, in die er sich inkarniert hat, seine ursprüngliche Freiheit wiedergewinnt. Doch im Fall des Christus Jesus war das sich inkarnierende Wesen schon immer eine vollkommene, freie, niemals von Gott getrennte Gottesgestalt gewesen. Nur ihre Ausdrucksmöglichkeit wurde durch ihre Inkarnation zunächst verhindert.
Das bedeutet: eine vollkommene Gottesgestalt, erfüllt von der Liebe, Weisheit und Kraft Gottes, trat durch diese Inkarnation in die irdische Welt ein. Das war ein in seiner Bedeutung gar nicht abzuschätzendes Ereignis in der Geschichte der Menschheit. Denn diese bekam dadurch eine neue Entwicklungsrichtung und ihre Rückkehr zu Gott, zu ihrem Ursprung, konnte stark beschleunigt werden Mit diesem Ereignis hatte die göttliche Welt einen unzerstörbaren "Brückenkopf" in der irdischen Welt gebildet, von dem aus auf lange Sicht die irdische Welt für die göttliche Welt "zurückerobert" werden konnte.
Diese Gottesgestalt wurde später Christus und Gottes Sohn genannt. Die Persönlichkeit, in die sie inkarniert war, hieß Jesus. Diese war zu dem Zeitpunkt, als die Gottesgestalt in den Embryo inkarnierte, noch nicht unsterblich, war jedoch später bereit und fähig, als Inkarnation dieser höchsten Wesenheit einen Weg der Selbstübergabe an die Gottesgestalt zu gehen, auf dem sie ihrerseits unsterblich wurde. Schritt für Schritt ließ sie sich von dem hohen Wesen verwandeln, das sich in ihr inkarniert hatte, glich sich dadurch diesem Wesen an, wurde ihrerseits unsterblich und konnte ihm allmählich als Ausdrucksmittel dienen.
Von besonderer Bedeutung für die Zukunft sowohl Jesu und seiner Schüler, als auch der ganzen Menschheit war also die Tatsache, dass die in Jesus inkarnierte "Gottesgestalt", wie Paulus sie nennt, auch bei ihrer Verbindung mit Jesus, von ihrem göttlichen Ursprung her ganz frei und mit Gott eins und vollkommen war. Nur war ihre Ausdrucksmöglichkeit durch die Inkarnation in eine zunächst noch sterbliche Persönlichkeit vorerst unmöglich geworden. Diese Möglichkeit gewann sie erst im Lauf des Lebens Jesu und durch dessen Weg vollständig zurück.

Da die Gottesgestalt von Anfang an vollständig und vollkommen war und nicht erst durch einen befreienden Weg der Selbstübergabe, den die Persönlichkeit ging, aufgebaut werden musste, war ihre göttliche Kraft, nachdem sie ihre Ausdrucksmöglichkeit wiedergewonnen hatte, über die Maßen groß. Sie gab jedem Menschen die Möglichkeit, in ihm, dem Christus selbst, und dadurch in der göttlichen Welt wieder vollkommen verankert und befreit zu werden. Das war eine einmalige Tatsache in der Geschichte der Menschheit und eine besondere Chance in ihrer Entwicklung zur verloren gegangenen Vollkommenheit. Die Entwicklung konnte dadurch entscheidend verkürzt werden.

Eine vollkommene Gottesgestalt wirkte und wirkt somit seit ihrer Inkarnation in der Menschheit als Bild, Muster, Kraft und alles Irdische durchdringende Strahlung zur Befreiung der von Gott getrennten Menschen und für ihre Rückkehr zur Einheit mit Gott. Sie wirkt bis in alle Zukunft zur Unterstützung jedes noch nicht befreiten Geistfunkens auf Erden. Auch der Leser dieses Briefes kann sich auf diese Strahlung verlassen.

Die Persönlichkeit namens Jesus, in die sich diese Gottesgestalt inkarnierte, besaß zunächst ein zweifaches Blutserbe und damit verbunden ein zweifaches Karma: eins von Vaterseite und eins von der Vaterseite der Mutter her. Deshalb beschreibt die Bibel zwei Stammbäume dieser Persönlichkeit. Der eine stellt die Vaterseite Jesu vor allem durch die Reihe der israelitischen Könige dar und wird im Evangelium nach Matthäus von Abraham bis Jesus herabgeführt. Den anderen, der die männlichen Vorfahren der Mutter Jesu*, vor allem bestehend aus den israelitischen Priestern bis zu Gott, hinaufführt, enthält das Evangelium nach Lukas.

{*Bei den Juden wurde prinzipiell nur auf den Stammbaum des Vaters eines Kindes Wert gelegt. Deshalb ist es gewöhnungsbedürftig, dass dieser Lukas-Stammbaum die männlichen Vorfahren der Mutter Jesu enthalten soll. Die von Lukas am Anfang des Stammbaums verwendete Ausdrucksweise in Kap.3, 3 : Jesus "war, wie man annahm, ein Sohn des Joseph" kann alles mögliche bedeuten, zum Beispiel, dass Jesus gar nicht von Joseph gezeugt wurde, oder dass Lukas schon die Vorstellung der späteren Kirche hatte, Jesus habe keinen irdischen Vater gehabt, oder dass für Jesus ausnahmsweise auch die Erblinie vom Vater der Mutter her eine Rolle spielen sollte. Für diese letztere Interpretation spricht, dass sich der eine, der Matthäus-Stammbaum, meist auf die Könige bezieht, die ein männliches Herrschaftsprinzip vertreten, der andere, der Lukas-Stammbaum, vor allem auf die Priester, die, obwohl immer männlich, das weibliche, religiöse Prinzip darstellen.}

Das Blutserbe und Karma Jesu von Vater- und Mutterseite her ist somit die Quintessenz des Blutserbes und Karmas des ganzen Volkes Israel. Dieses hatte von Abraham an mit dem Gott Jahwe einen "Bund" geschlossen. Seitdem hatte Jahwe, der "Ich-bin-der Ich-Bin", als einer der Weltschöpfer, der sieben Elohim, in der Entwicklung der Menschheit dahin gewirkt, ein Volk und schließlich eine Ich-Persönlichkeit heranzubilden, die geeignet wäre, dem höchsten Wesen der göttlichen Welt als besondere Inkarnation zu dienen. Sie war die "Knechtsgestalt", von der Paulus spricht. Sie war durch ihr besonderes Blutserbe und Karma so weit gereift, dass sie nach einem Weg der Hingabe an das hohe göttliche Wesen, an die "Gottesgestalt", wie Paulus sie nennt, wieder eine unsterbliche Einheit mit dieser "Gottesgestalt" bilden konnte. Mit dem Lebensweg Jesu, auf dem er sich Schritt für Schritt, bis zur eigenen Unsterblichkeit, der Gottesgestalt anverwandelte, wurde dieses Ziel erreicht.
Dieser besondere Inkarnationsvorgang in der Menschheitsentwicklung erfolgte in einem entscheidenden, kritischen Augenblick. Einerseits war die biologische Evolution der Menschheit, insbesondere des jüdischen Volkes, so weit vorangeschritten, dass ein sterblicher Mensch, Jesus, heranwachsen konnte, der zur Inkarnation eines sehr hohen Wesens aus der göttlichen Welt geeignet war. Andererseits war zu diesem Zeitpunkt auch die Entwicklung des jüdischen Volkes und seiner Religion gerade so weit gediehen, dass sie ihren Zweck in der Menschheitsentwicklung erfüllt hatte, nämlich ein bewusstes, selbstständiges irdisches Ich, eine "Knechtsgestalt", aufzubauen, in der sich der besondere göttliche Mikrokosmos, die "Gottesgestalt", inkarnieren konnte.
Daraus folgte eine doppelte Aufgabe des irdischen Menschen Jesus, in den das höchste Wesen aus der göttlichen Welt inkarniert war. Zum einen sollte er einen Weg gehen, auf dem seine sterbliche irdische Persönlichkeit bis zu einer unsterblichen Persönlichkeit transfigurierte, um wieder eine vollkommene Einheit mit diesem hohen Wesen aus der göttlichen Welt zu bilden. Zum andern sollte er das "Jahwe-Gesetz" des alten Judentums "erfüllen" und das jüdische Volk in die neue Ära der Christus-Freiheit führen. Sein Leben illustriert die Erfüllung beider Aufgaben.

Paulus beschreibt den Vorgang der Inkarnation des höchsten Wesens, das später Christus genannt wurde, im irdischen Embryo des Wesens, das später Jesus genannt wurde, mit den Worten:Jesus Christus, der Sohn Gottes, "der aus der Nachkommenschaft Davids hervorgegangen ist nach dem Fleisch, der eingesetzt ist zum Sohn Gottes voll Macht nach dem Geist der Heiligkeit kraft der Auferstehung von den Toten" (Brief an die Römer, 3-4). Paulus unterscheidet also deutlich zwischen dem sterblichen irdischen Wesen namens Jesus, der "nach dem Fleisch aus der Nachkommenschaft Davids hervorgegangen ist", und dem unsterblichen Christus, der sich mit Jesus bei der Taufe am Jordan endgültig verbunden hatte. Als Jesus Christus ist dieses neue Wesen "eingesetzt zum unsterblichen Sohn Gottes" und "von den Toten" auferstanden.
Kann man sich dieses freiwillige Opfer eines höchsten göttlichen Wesens vorstellen? Durch die Inkarnation in einer sterblichen "Knechtsgestalt" war es diesem Wesen zunächst unmöglich, das Bewusstsein seiner "Gottesgestalt" aufrechtzuerhalten. Es begab sich somit freiwillig in einen schaurigen Abgrund des "Fleisches", die materielle irdische Welt, die im Vergleich zur lichten göttlichen Welt vollkommenes Bewusstseinsdunkel und Verlust der ursprünglichen Freiheit bedeutete. Im dritten Monat seiner irdischen Embryo-Existenz verfügte Jesus, und damit auch die in ihn inkarnierte "Gottesgestalt", über nichts weiter als über das "Bewusstsein" eines Embryos - falls sich dabei schon von Bewusstsein sprechen lässt. Denn mit der freiwilligen "Entäußerung" der Gottesgestalt hatte sie sich auch ihres Bewusstseins entäußert. Das war der Anfang der Menschwerdung dieser "Gottesgestalt", ihrer Annahme einer "Knechtsgestalt".
Außerdem hatte sie sich durch die Annahme einer "Knechtsgestalt" mit deren Karma verbunden, und da diese besondere Knechtsgestalt, als Träger des ganzen Blutserbes und Karmas eines Volkes auch mit dem Karma der ganzen Menschheit verbunden war, hatte er die "Schuld", das Karma, der ganzen Menschheit auf sich genommen. Das heißt nicht, dass er alle Schuld der Menschheit getilgt, sondern nur, dass er sich mit ihr konfrontiert und ein Beispiel und eine Hilfestellung dafür gegeben hatte, wie jeder Einzelne sein eigenes Karma auflösen könnte. Die Versuchungen durch den "Teufel" nach seiner Feuertaufe schildern diese Begegnung mit dem Karma der Menschheit.

Der besondere Weg der Inkarnation eines höchsten, unsterblichen göttlichen Wesens ins "Fleisch" einer sterblichen irdischen "Knechtsgestalt" begann also in höchster göttlicher Strahlungshelle und führte bis in die tiefste irdische Finsternis, um von dort aus die irdische Welt wieder mit der göttlichen Welt zu vereinigen.
Der Evangelist Johannes drückt das so aus: "Niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der aus dem Himmel herabgestiegen ist, der Sohn des Menschen" (Johannes 3, 13). Wer die von Gott getrennte irdische Welt wieder zu Gott, zum Himmel, zurückführen will, muss ganz in die irdische Tiefe hinabsteigen. Das bedeutet für die Rückkehr jedes einzelnen Menschen in die göttliche Welt, dass auch er, und zwar mit Hilfe des Christus Jesus, ganz in die Tiefe der irdischen Welt hinabsteigen muss, um sich seiner Lage bewusst zu werden. Erst dann kann er wieder, ebenfalls mit Hilfe des Christus Jesus, in die Höhe der göttlichen Welt hinaufsteigen. Wer diese Bedingung umgehen will, wird keinen befreienden Weg gehen können.

In seinem ganzen künftigen Leben als "Knechtsgestalt", als Jesus, würde es sich der Christus Jesus zur Aufgabe machen, die Knechtsgestalt mit seinen Gotteskräften zu durchdringen und schließlich gänzlich in der Gottesgestalt aufgehen zu lassen, um diese Gottesgestalt, deren er sich "entäußert" hatte, wieder bewusst und wirksam machen zu können. Von Anfang an demonstrierte der Christus Jesus damit die Grundtatsachen des spirituellen befreienden Weges, die Transfiguration: "Wer sein irdisches Leben der Knechtsgestalt behalten will, der wird das irdische Leben im Tod verlieren": Er wird sterben. "Wer aber sein irdisches Leben verlieren will um meinetwillen, das heißt um des unsterblichen Christus willen, der wird das wahre, unsterbliche Leben der Gottesgestalt finden" (Matthäus 16, 25). Er wird ewig leben.
Die verschiedenen Phasen dieser Aufgabe werden deutlich in den Evangelien beschrieben. Es sind die Aufgaben der Knechtsgestalt eines jeden Menschen, der erkennt: Ich muss den inneren Christus, das Geistprinzip, das in mir inkarniert ist, wieder wach und bewusst werden lassen, gerade dadurch, dass der alles umfassende Christus, der seit der Auferstehung von Jesus Christus in jedem Menschen und weltweit im Organismus der Menschheit als Kraft und Strahlung wirkt, meinen individuellen inneren Christus aus dem Dunkel des Todes erlöst. Die Gottesgestalt, die ich als ursprünglicher Mensch besaß und die ich als stolze Knechtsgestalt bis zur Bewusstlosigkeit unterdrückt hatte, muss und will ich wieder zum Leben und zur Auferstehung führen.

Am Anfang dieses Weges arbeiteten im irdischen Menschen Jesus zwei Kräfte zu diesem Ziel zusammen, die auch in jedem Schüler auf dem befreienden Weg zusammenarbeiten werden: Sie sind in der Bibel verkörpert in Johannes, dem späteren Täufer, und in Jesus. Johannes der Täufer wird bei Lukas als ein sogenannter Nazoräer (griechisch für hebräisch "Nasiräer") geschildert. Das ist ein Mensch, der asketisch lebt, um seinen sterblichen Körper von den gröbsten Hindernissen auf dem Weg zu reinigen. "Wein und starkes Getränk wird er nicht trinken und schon von Mutterleib an mit dem heiligen Geist erfüllt sein wird" (Lukas 1, 15). Er ist ein Eingeweihter, der "in der Kraft des Elia" "viele von den Söhnen Israels zu Gott zurückbringen" wird (Lukas 1, 15-16), der somit als Vorläufer des Christus dessen Wege bereiten wird. Jeder Schüler auf dem Weg wird zunächst ein vernünftig-sittliches Leben erlernen müssen, damit die Jesuskräfte in seiner Seele wirksam werden können.
Beide Gestalten, Johannes der Täufer und Jesus, sind eng mit einander verbunden, was sich bei einer Begegnung von Johannes Mutter Elisabeth, die seit sechs Monaten mit Johannes schwanger geht, mit Maria, der Mutter von Jesus, zeigt. Der Embryo des Johannes "hüpfte vor Freude", als er den sechs Monate jüngeren Embryo des Jesus in Maria spürte: "Als Elisabeth den Gruß der Maria hörte, da hüpfte das Kind (Johannes) in ihrem Leib" (Lukas 1, 41): Der Embryo des Johannes in Elisabeth spürte den in Maria heranwachsenden Embryo von Jesus. Und Elisabeth sprach zu Maria die Worte, die später zum "Ave Maria" wurden: "Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes" (Lukas 1, 42).

Ähnlich wirkt in jedem Menschen, der sich auf den spirituellen Weg begibt, der Vorläufer Jesu*, Johannes der Täufer, als reinigende Kraft und begegnet schon dem heranwachsenden Jesus in der Seele des Schülers.

{*Eine Hilfe für Leser ohne Lateinkenntnisse: "Jesu" ist der lateinische Genitiv (Wes-Fall) von Jesus: zum Beispiel bedeutet "der Weg Jesu" der Weg des Jesus. "Jesu" ist zugleich der lateinische Dativ (Wem-Fall), auf Deutsch zum Beispiel "In Jesus". Der lateinische Akkusativ (Wen-Fall) von Jesus lautet "Jesum", so im Lied: "Meinen Jesum lass ich nicht". Und der lateinische Nominativ (Wer-Fall) von Jesus heißt Jesus, nicht "Jesu", wie man manchmal liest. "Jesus mihi omnia" heißt also: Jesus ist mir alles.}

Johannes der Täufer ist der Wegbereiter für den Größeren. Beide können als Verkörperungen von eng miteinander zusammenarbeitenden göttlichen Kräften in der Seele eines Einzelnen aufgefasst werden, der vor einem spirituellen Weg steht: Johannes ist die Verkörperung der Kraft der Reue über ein sinnlos gewordenes Leben, und Jesus ist die Verkörperung der darauf aufbauenden Kraft des Glaubens an ein höheres Leben, die den spirituellen Weg ermöglicht.
Beide Gestalten werden später näher charakterisiert: Johannes der Täufer ist zwar ein Prophet und tauft mit dem Wasser der Reue, gehört aber dem Wesen nach zur irdischen Menschheit, während Jesus nach seiner Taufe mit dem heiligen Geist vom Christus erfüllt ist. Als mit dem heiligen Geist "Gesalbter" (Christus = griechisch "Gesalbter") ist Jesus ein Sohn Gottes und tauft seinerseits mit dem Feuer des Geistes. Johannes sagt daher von Jesus: "Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt, der nach mir kommt, und ich bin nicht würdig, ihm den Schuhriemen zu lösen" (Johannes 1, 28). Und Jesus selbst sagt von Johannes: "Unter denen, die von Frauen geboren sind, ist kein Größerer aufgetreten als Johannes der Täufer. Doch der Kleinste im Reich der Himmel ist größer als er" (Matthäus 11, 11).
Es ist ein unüberbrückbarer Unterschied zwischen der irdischen und der göttlichen Welt. Wer auch nur ein winziges Element der göttlichen Welt in sich trägt und es verwirklicht, ist größer als der größte Mensch ohne ein solches Element in der irdischen Welt. Wie könnte der größte irdische Mensch dadurch in die göttliche Welt gelangen, dass er sich noch größer zu machen versucht? Muss er nicht im Gegenteil seine irdische Größe stets verkleinern, damit das göttliche Element in ihm wachsen und zur Geltung kommen kann?

Zurück zur Kindheit von Johannes und Jesus. Nachdem die gesetzmäßige Dauer der Schwangerschaft Marias abgelaufen ist, tritt das Kind Jesus in die irdische Welt hinaus. Man pflegt zu sagen: Das Kind erblickt das Licht der Welt. In diesem Fall müsste es heißen: Die Welt erblickt das Licht des Kindes. Denn im Vergleich zu Jesus ist die irdische Welt dunkel, obwohl auch er selbst, als "Knechtsgestalt", noch zu ihr gehört.

Dennoch ist seine Geburt eine große Verheißung: die Verheißung, dass Christus, das Licht der göttlichen Welt, das sich in Jesus inkarniert hat, einst die irdische Welt vollkommen verändern und licht machen wird. Die niemals von Gott getrennte Gottesgestalt des Christus war den drei Weisen aus dem Morgenland als hell leuchtender Stern am Himmel erschienen, hatte sich schon in dem Embryo Jesus inkarniert und trat jetzt in dem Neugeborenen in die äußere irdische Welt ein.
Das ist Weihnachten für jeden Menschen: Der erste Schimmer des Lichtes der göttlichen Welt bricht in die finstere irdische Welt ein, als das Kind Jesus, eine mit dem göttlichen Geistfunken verbundene Knechtsgestalt, in der irdischen Welt geboren wird, und ein Engel den dabei stehenden Hirten zuruft: "Ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird." (Lukas 2, 10). In jedem Schüler Menschen kann eines Tages diese Freude aufbrechen, wenn das göttliche Kind in ihm geboren und bewusst und wirksam wird. Denn die sterbliche Knechtsgestalt ist schon vor der Geburt von der unsterblichen Gottesgestalt umfangen. Sobald diese in ihm wieder bewusst und wirksam wird, weist sie der Knechtsgestalt den Weg. In dem Maß, wie die Knechtsgestalt erwachsen wird, kann die Gottesgestalt ebenfalls erwachsen werden und schließlich auferstehen - falls die Knechtsgestalt nur einwilligt, das alte irdische Wesen in der Gottesgestalt aufgehen und untergehen zu lassen.
Vorläufig aber ist es noch so, dass das göttliche Kind nicht die geringste Aufmerksamkeit in der irdischen Welt und im irdischen Menschen erregt. Es wird in einen ärmlichen Winkel verbannt. Seine Eltern und es selbst, erst recht die mit ihm verbundene Gottesgestalt, "fanden keinen Platz in der Herberge" (Lukas 2, 7).

So beginnt der spirituelle Weg in jedem dafür bereiten Wahrheitssucher. Als irdischer Mensch, als Jesus ähnliche Knechtsgestalt, kann er mit dem Weg der Befreiung beginnen, umfangen von der noch kaum bewussten Gottesgestalt, die im Herzen auf ihre Auferstehung wartet. Erst in dem Maß, in dem der Säugling, das heranwachsende neue Bewusstsein, sprechen lernt, zum Kind wird, sich intelligent in seiner Umwelt orientiert und sie kennen lernt, kann sich auch die bisher latente Gottesgestalt, die göttliche Kraft und Weisheit, durch die ihr dienstbare Knechtsgestalt ausdrücken. Von Geburt an hatte die im Herzen wirkende Gottesgestalt, die sich in dem Kind Jesus inkarniert hatte, Einfluss auf die irdische Knechtsgestalt ausgeübt, um sie für den Weg der Erlösung bereit zu machen.

Deshalb fährt der Evangelist Lukas fort: "Das Kindlein aber wuchs und wurde stark, indem es mit Weisheit erfüllt wurde, und die Gnade Gottes war auf ihm"(Lukas 2, 40). Die Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lukas 2, 41-52) berichtet von diesem Geschehen:
Maria und Josef, die irdischen Eltern des Kindes, verloren den jungen Jesus auf einer Reise zum Tempel in Jerusalem. Als sie ihn nach sorgenvoller Suche im Tempel wiederfanden und sahen, wie er sich dort als ein junger Weiser mit den Theologen besprach, machten sie ihm Vorwürfe, dass er sie unerlaubt verlassen habe. Seine Antwort war: "Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vater ist?" (Lukas 2, 49) Er hatte sich innerlich von ihnen gelöst, weil er sich bewusst geworden war, wohin seine Seele gehörte und wohin sie ihn zog, nämlich ins "Haus seines Vaters", den Tempel Gottes, in dem sie erwachsen und selbstständig werden konnte. Das verstanden die Eltern nicht, glaubten sie doch, Jesus in den überlieferten Traditionen erziehen zu müssen. Dennoch schloss er sich äußerlich gehorsam an sie an, "und war ihnen untertan" (Lukas 2, 51).
Die Szene schildert in einer Erzählung, wie ein schon in der Kindheit von innen her zu einem spirituellen Weg gerufener Mensch diesen Weg mit Hilfe seines Geistfunkens selbstständig findet und ihm folgt, ohne dabei Konflikte mit den Eltern herbeizuführen.
"12" Jahre war Jesus alt. 12 ist der kabbalistische Zahlenausdruck für eine vollzogene Entwicklung. Jesus - oder der Schüler auf dem Weg - hatte sich bis zu dem Grad entwickelt, dass ein innerer Ruf ihn zur göttlichen Welt, zum "Vater", ziehen konnte. Die Gottesgestalt in ihm hatte im Lauf der Jahre die irdische Knechtsgestalt so weit durchdrungen und verändert, dass sein Bewusstsein dieser Gottesgestalt den ersten, schon bewussten Ausdruck geben konnte. "Jesus nahm zu an Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und den Menschen" (Lukas 2, 52)

(wird fortgesetzt)


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