21.03.23

Gnostisches Christentum - Forum für ein gnostisch-rosenkreuzerisches Christentum - 17 Brief

17. Brief, München - April 2023



"Kommt und seht selbst" (Johannes 1, 39)

Briefe zum gnostischen Christentum

17. Brief


Matthäus berichtet weiter, Kapitel 4,1: "Dann wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, um vom Teufel versucht zu werden." Sobald ein Mensch auf dem Weg, vom Geist erfüllt oder "gesalbt", also ein Christus wird, ein Gesalbter, wird er "vom Geist in die Wüste geführt, um vom Teufel versucht zu werden". Veranlasst der Christusgeist derartige Versuchungen? Gewiss nicht. Der Geist zeigt einem solchen Menschen nur, dass die irdische Welt, die er mit seinem alten Bewusstsein vielleicht als durchaus akzeptabel gefunden hatte, in Wirklichkeit eine "Wüste" ist. Er sieht die irdische Welt von der göttlichen Welt aus mit neuen Augen. Da wird ihm klar, dass diese irdische Welt für den göttlichen Menschen eine "Wüste" voller Bitterkeiten und Versuchungen ist, die schließlich unweigerlich mit dem Tod endet. Aber das alte irdische Ich- oder Überich-Bewusstsein, der "Teufel" versucht ihm doch noch zu suggerieren, es sei eine lebenswerte Welt mit vielen großen Möglichkeiten.

Vielleicht ist der Ausdruck: "vom Geist in die Wüste geführt werden, um vom Teufel versucht zu werden", eine Wendung, die auch die sechste Bitte des Vaterunsers inspiriert hat. Die Formulierung "Und führe uns nicht in Versuchung" ist rätselhaft. Führt denn Gott den Menschen in Versuchung oder will er ihn in Versuchung führen? Die Frage lässt sich vielleicht so beantworten: Sobald der Geist einen Menschen auf dem Weg erfüllt, wird dieser Mensch unbedingt vom Geist in die Wüste geführt werden, um dort vom Teufel versucht zu werden. Nicht Gott führt ihn in Versuchung, sondern der Geist Gottes führt ihn in die Wüste, wo ihn die Versuchung des Teufels erwartet. Der Geist der Wahrheit, Gott, enthüllt diesem Menschen das kaum erträgliche Wesen der irdischen Welt. Dadurch gerät dieser in Versuchung, seine Welt nach seinen eigenen Begriffen zu verbessern.
Die sechste Bitte des Vaterunsers könnte daher bedeuten: "Wenn du, heiliger Geist, mich erfüllst und mir das unheilige Wesen der irdischen Welt zeigst, führe mich dadurch nicht in Versuchung, diese Welt nach meinen eigenen Begriffen, die vom Ich und Über-Ich, von der Verkörperung des Teufels, stammen, ändern zu wollen." Diese Versuchung wird und muss auf dem spirituellen Weg des Menschen auftreten. Aber er kann und wird darum bitten, dass er ihr nicht erliegt.

Drei Versuchungen sind es, denen ein solcher Mensch gerade an dieser Stelle seines Weges begegnen und die er durchleben muss, um sein neues, spirituelles Bewusstsein zu bestätigen.

Die erste ist: Sein Ich oder Über-Ich kann sich sagen: Ich habe die Kraft, für mich selbst und für andere, sogar für die ganze Menschheit, die Wüste der Armut in ein Land des Wohlstands zu verwandeln. Alle Versuche großer Persönlichkeiten, diese irdische Welt wenigstens zu einem Dasein zu machen, in dem niemand mehr Hunger leiden muss, entspringen dieser Versuchung.
Ist etwas dagegen einzuwenden, die Armut zu bekämpfen? Nur dann, wenn darüber die eigentliche Aufgabe des Menschen und der Menschheit vergessen wird - die Aufgabe, "vom Brot des Geistes" zu leben, vom "Wort Gottes" zu leben. Denn nur ein solches Bewusstsein gibt dem Leben Sinn und kann den Menschen aus der Wüste der irdischen Welt in die Fülle der göttlichen Welt zurückführen, die er verlassen hat und zu der er zurückfinden möchte. Wenn er so handelt, wird er in der göttlichen Welt des "Lebens die Fülle haben". Wenn er jedoch seine Kräfte vor allem auf das Ziel richtet, für sich und andere ein Leben ohne Armut oder sogar im Wohlstand zu erreichen, wird er mit anderen Gruppen über die Wege zum Wohlstand in Streit geraten, sein Ziel über kurz oder lang mit Gewalt zu erreichen suchen oder nicht mehr wissen, wie er klug mit seinen Ressourcen umgehen muss, um seine Existenzgrundlagen nicht zu zerstören. Vor allem wird er auf Dauer von der Sinnlosigkeit eines solchen Daseins gequält werden.
Jesus durchschaut diese Möglichkeiten, die er als Eingeweihter hätte, in ihrer Relativität und setzt dem Teufel, seinem Ich oder Über-Ich, die schon im Alten Testament erklärte Wahrheit entgegen: "Der Mensch lebt nicht vom irdischen Brot allein, sondern (vor allem) vom Wort, das aus dem Mund Gottes hervorgeht" (Matthäus 4, 4). Das "Wort" Gottes wird in der Bibel immer wieder als "Brot" bezeichnet, das der Mensch für seine spirituelle Entwicklung braucht. Zum Beispiel sagte Jesus von sich: "Ich bin das Brot des Lebens", das heißt, ich bin die göttliche Substanz, die ihr als Nahrung zu einem sinnvollen Leben braucht (Johannes 6, 35 und 51).

Die zweite Möglichkeit, die ein Eingeweihter wie der zum Christus gesalbte Jesus gehabt hätte, um der unerträglichen Relativität und Pein der irdischen Welt entgegenzuwirken, wäre, die Menschen von seiner Besonderheit und einem Weg zur Befreiung zu überzeugen, den er als begnadeter Befreiter ihnen anzubieten hätte. Alle Ich-Ansprüche von Religionsführern, ihre Anhänger zur Seligkeit führen zu können, weil sie selbst von Gott dazu beglaubigt und unfehlbar seien, entspringen dieser Versuchung durch den "Teufel" des von sich selbst überzeugten Ichs oder Über-Ichs. Die Bibel verwendet als Bild dafür, dass ein Eingeweihter wie Jesus vom Versucher auf einen hohen Turm oder die Zinne des Tempels, die höchste Region seiner überlieferten Religion, geführt wird und sich einbildet, er könne ohne Gefahr in die Tiefe des irdischen Chaos springen, weil Gott ihn im Sturz schon auffangen würde.

Schon im Alten Testament wird die Möglichkeit beschrieben, dass sich der Mensch einbildet, "wie Gott" zu sein, oder dass eine Organisation felsenfest behauptet, "Vertreter Gottes auf Erden" zu sein, die in allen Schwierigkeiten auf die Hilfe Gottes zählen und bei allen Fehlern die Verzeihung Gottes erlangen könne. Doch Jesus weist im Neuen Testament diese Versuchung zurück. Er sagt zum Teufel in sich selbst: "Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen" (5. Mose 6, 16). Das heißt, du sollst nicht darauf vertrauen, dass dich Gott in allen Risiken schützen wird, die du leichtfertig eingehst, weil du den Zustand als Eingeweihter mit deinem Ich oder Über-Ich verwechselst.
Der Satz, "Du sollst Gott, deinen Herrn nicht versuchen", den Jesus dem Teufel entgegensetzt, bedeutet nicht, dass der Teufel Jesus nicht versuchen solle. Da würde sich Jesus ja mit Gott dem Herrn gleichsetzen. Der Satz bedeutet vielmehr, dass der Eingeweihte, in diesem Fall Jesus der Christus, Gott nicht auf die Probe stellen solle, ob er seinem Diener auch in Fällen behilflich ist, in denen dieser im Vertrauen auf seine Auserwähltheit und Unfehlbarkeit größte Risiken eingeht. Dieses Verhalten wäre ein Zeichen dafür, dass sich der Eingeweihte wie Gott selbst oder als Sohn Gottes oder Vertreter Gottes auf Erden vergötzt. Darauf hat es der Teufel abgesehen.

Die dritte Versuchung kam auf Jesus zu, nachdem er vom Geist erfüllt war und die irdische Welt als "Wüste" nicht nur des Hungers und der spirituellen Irreführung, sondern auch der Ungerechtigkeit erkannt hatte. Er hätte mit seiner neuen spirituellen Macht als Gottes Sohn und Christus versuchen können, die irdische Welt zu beherrschen, um ihr ein sicheres, freies Leben nach den Ich- und Über-Ich-Begriffen des "Teufels" zu ermöglichen. Das würde als große Menschenfreundlichkeit des Eingeweihten oder einer spirituellen Organisation, welche die Bedürfnisse der schwachen Menschen erkennt und durch Ordnung und Kontrolle Abhilfe schaffen will, gewertet werden.
Jesus hätte mit seinen neuen Fähigkeiten als Eingeweihter das Los des Volkes Israel zu ändern und es von der römischen Gewaltherrschaft zu befreien vermocht. Unzählige Anhänger, unter anderem auch sein Schüler Judas, hofften darauf. Die begeisterte Menge legte ihm Zweige der Hoffnung und Verehrung auf den Weg zur Herrschaft in Jerusalem. Aber er ritt in die Stadt, wie der Evangelist in Anlehnung an den Propheten Sacharja berichtet, auf einem Eselsfüllen ein, dem Symbol für Bescheidenheit und Schlichtheit im Vergleich zum stolzen, übermütigen Ross (Sacharja 9, 9). Die Versuchung für Jesus muss groß gewesen sein, sein geschundenes Volk von der Herrschaft des römischen Kaisers zu befreien, der sich religiöse Befugnisse Gottes anmaßte. Jesus hätte diese Befreiung erreichen können. Ein wesentlicher Grund für seine spätere Hinrichtung war, dass er das Volk in diesen Hoffnungen enttäuscht hatte.

Man sieht gerade an diesem Beispiel, wie wichtig es für einen Eingeweihten ist, den Unterschied zwischen der Größe seines eigenen Ichs und seinem Gehorsam gegenüber Gott, von dem seine geistige Kraft stammt, zu erkennen. Nur so wird er entsprechenden Versuchungen gewachsen sein. Jesus erkennt: "Du sollst den Herrn, deinen Gott anbeten und ihm allein dienen." Das schließt nicht aus, dass Menschen unter tyrannischer Herrschaft das Unrecht auch beim Namen nennen und, ihrerseits ohne Gewalt, unerträgliche gesellschaftliche Verhältnisse zu ändern suchen. Wo ein Machthaber versucht, eine ungerechte Herrschaft zu etablieren und aufrecht zu erhalten, da werden innerlich freie Menschen versuchen, die Ungerechtigkeit wenigstens zu entlarven und durch ihre innere Kraft gewaltlos zu entmachten. Jesus verhielt sich tatsächlich so, wie es seine späteren "Weherufe" über die Pharisäer zeigen (Matthäus 23, 13-36). Sein Verhalten war beispielhaft und ermöglichte, dass in der Menschheit im Lauf der Zeiten jede ungerechte Herrschaft erkannt und durch geistige Kräfte entmachtet werden könnte.

Wenn Jesus die drei großen Versuchungen in der "Wüste" bestand, so heißt das nicht, dass das für ihn selbstverständlich war. Es waren reale Angriffe des "Teufels", denen er mit allem Einsatz seines Bewusstseins und seiner Einsicht standhalten musste. Es wäre auch möglich gewesen, dass er sie nicht bestanden hätte, wenn seiner Knechtsgestalt nicht seine schon wirksame Gottesgestalt zu Hilfe gekommen wäre. Denn nur so, durch das Durchleben einer äußersten Gefahr, konnte er seinerseits allen, die später in eine ähnliche Lage gerieten, die Kraft geben, sich ebenfalls zu bewähren. Immer mussten seine Nachfolger auf dem spirituellen Weg in einer ähnlichen Phase diese Versuchungen bestehen. Es wurde ihnen nichts geschenkt, anders hätten sie nicht lernen können, wie die innere Freiheit erobert wird.

Übrigens schreibt Lukas: "Nachdem der Teufel alle Versuchung vollendet hatte, stand er von (Jesus) ab bis zu gelegener Zeit" (Lukas 4, 13). Denn auf Jesus würde noch eine vierte Versuchung zukommen, die größte, die ihn in schwerste innere Bedrängnis führen würde. Denn in Gethsemane versuchte ihn der Teufel, jetzt in Gestalt des physischen Selbsterhaltungstriebs, zum letzten Mal, seiner Aufgabe untreu zu werden. Der Selbsterhaltungstrieb des Körpers verlangt mit großer Macht, dass ein Mensch in Lebensgefahr den Körper rette. In dieser Situation trat die Versuchung auf Jesus zu, die qualvolle Kreuzigung zu vermeiden und sein irdisches Leben zu retten.
Lukas 22, 44, heißt es: "Und er (Jesus) geriet in angstvollen Kampf." Er redete mit seinem göttlichen Vater im Innern: "Vater, wenn du willst, so lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe" (Lukas 22, 42).
Nachdem Jesus diese letzte, schwerste Versuchung bestanden hatte, war er bereit und besaß die innere Kraft, im Einverständnis mit dem göttlichen Vater im Innern den qualvollen Tod am Kreuz zu erleiden. Denn er wusste: Dieser Tod des Selbsterhaltungstriebs setzte die göttliche Liebe in ihm frei, durch welche die ganze Menschheit die Möglichkeit erhalten würde, sich vom Druck des "Teufels" zu befreien. "Wer sein Leben (des Selbsterhaltungstriebs) um des Geistes willen verliert, der wird das wahre Leben finden" (Matthäus 16, 25).

Zurück zu den drei Versuchungen in der "Wüste". Jesus hatte sie nach der Feuertaufe am Jordan durchlebt, bestanden und hatte dadurch die Kraft gewonnen alle Versuchungen zu bestehen, die ihn später während seines öffentlichen Auftretens hätten irritieren können: die Versuchung, Wohlstand für alle in der Welt zu erzeugen, die Versuchung, als Heilsbringer berühmt zu werden, und die Versuchung, durch absolute Macht alles Chaos zu regeln. So war er gerüstet, nur den sachlichen Erfordernissen zu folgen, die sich aus seinem inneren Auftrag ergaben. Er konnte ihnen ohne Ablenkung all seine Kräfte zuwenden.
(wird fortgesetzt)

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