09.10.23

Gnostisches Christentum - Forum für ein gnostisch-rosenkreuzerisches Christentum - 21 Brief

Briefe zum gnostischen Christentum

„Kommt und seht selbst!“ (Johannes 1, 39)

München, Oktober 2023

 

21. Brief:  

Die Bergpredigt III: neue Lebensführung der Jesusschüler

 

Der folgende Abschnitt der Bergpredigt schildert, wie sich das alltägliche Verhalten selbstständiger Schüler Jesu von einem Leben unterscheidet, das sich möglichst genau an überkommene und übernommene moralische Vorschriften hält. Das überlieferte Jahwe-Gesetz ist die Zusammenfassung all dieser Vorschriften. Es war notwendig für Menschen, die den Zustand natürlicher Leidenschaften und Begierden verlassen wollten, um zu Menschen mit einem selbstständigen Ich zu werden, frei von allen Einflüssen der alten „Götzen: dem Glauben an Nachkommen- und Viehreichtum als Lebensinhalt, dem Glauben an selbstverständliche Herrschaft über andere Stämme, und der Treue zu den Ritualen Jahwes, des „Ich-bin-der-Ich-bin.“ Im Vertrauen auf die Verheißungen Jahwes liefen diese Gläubigen immer Gefahr, ihre Auserwähltheit vor anderen Völkern zu sehr zu betonen, statt auch diese zum Gehorsam gegen das Gesetz und damit auf eine höhere Stufe der menschlichen Entwicklung zu führen.

Die Stufe der Selbstständigkeit eines verantwortlichen Ichs war vom Elohim-Gott [Anmerkung: Die Elohim sind die Schöpfer der ursprünglichen Welt, von der sich ein Teil der ursprünglichen Menschheit getrennt hatte, um ihre eigenen Wege zu gehen. Für sie wurde die Jahwe-Welt des Paradieses geschaffen, damit sie sich auf die Rückkehr zur ursprünglichen Schöpfung vorbereiten konnten] nur als Vorbereitung für eine höhere Stufe gedacht: für ein Leben in innerer Freiheit, die als Möglichkeit in den ursprünglichen, aus Gott geborenen Menschen gelegt war. Jesus war gekommen, um durch seine Inkarnation in einen sterblichen Menschen diesen so zu verwandeln, dass ein neuer, unsterblicher Mensch entstand, der die verlorene Einheit mit dem Elohim-Gott wieder finden würde. Ein solcher Mensch würde frei sein vom fordernden äußeren Jahwegesetz, dem er bisher nur mit Mühe gefolgt war, und würde die Struktur eines neuen, unsterblichen Menschen verwirklichen, in dem das äußere Gesetz zur inneren Selbstverständlichkeit geworden war. Das wäre seine neue „Gerechtigkeit“, die anders war als die der Pharisäer.

Damit war, wie Jesus ausführt, das alte „Gesetz oder die Propheten“ nicht aufgelöst. Es war nur abgelöst durch das neue Wesen eines Menschen, der das alte Gesetz auf neue Weise erfüllte: nicht mehr durch gehorsame Bemühung, sondern durch ein aus seiner neuen Struktur folgendes selbstverständliches Verhalten. Deshalb sagte Jesus: „Ich bin nicht gekommen, das alte Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ Die Erfüllung besteht in der Selbstverständlichkeit, aus der ein neues Herz, ein neues Denken und eine neue Gerechtigkeit im Menschen wirken. Nur wer aus dieser neuen Gerechtigkeit lebt, kommt „ins Reich der Himmel“.

Dadurch verwarf Jesus in keiner Weise die frühere Jahwe-Gerechtigkeit. Sie war notwendig gewesen, damit der Mensch bis zu einem eigenständigen Ich gelangte, auf dessen Einsicht und der Hilfe des inneren Jesus aufbauend, er einen spirituellen Weg zur Einheit mit dem Vater einschlagen konnte.

Wer glaubt, das alte Gesetz verwerfen und libertinistisch leben zu können, der verkennt die Notwendigkeit des Jahwegesetzes für einen noch unfreien Zustand des Menschen und als Voraussetzung für einen Schritt in die Freiheit des Evangeliums. „Bis der Himmel und die Erde vergehen, wird nicht ein einziges Jota vom Gesetz vergehen“, sagte Jesus (Matthäus 5, 18). Wenn er davon sprach, dass ein Schüler eine „bessere Gerechtigkeit“ als die Pharisäer haben müsse, um den nächsten Schritt auf dem geistigen Weg zu tun, so bezog er sich auf die Heuchelei der Pharisäer, die nicht einmal das Jahwegesetz erfüllen wollten oder konnten.

 

Mit solchen Worten hatte Jesus die Bedeutung der aus dem „Jahwe-Gesetz“ folgenden Gerechtigkeit, aber auch den Unterschied zu einer „neuen Gerechtigkeit“ beschrieben, die aus einer freien, wieder mit dem „Vater“ verbundenen  Seele hervorgeht. Wie die „neue Gerechtigkeit“ in den einzelnen Lebensbereichen aussieht, das schildert Jesus in den folgenden Versen der Bergpredigt. Sie sind seine tiefgründige Einführung in das Wesen und die Praxis eines spirituellen Weges, der das Innere eines Menschen radikal verändert, so weit, dass er wieder zum unsterblichen „Ebenbild Gottes“ wird, das er einst war. Denn derzeit ist er zur Karikatur dieses Ebenbilds Gottes geworden. Um wieder zum ursprünglich von Gott gewollten Wesen zu werden, sind tiefgreifende Veränderungen in ihm notwendig.

Denn es ist unmöglich, dass er durch das alte Gesetz oder durch neue Techniken sein gegenwärtiges Wesen verbessert, bis er wieder zum göttlichen Wesen würde, in dem er eins mit dem Vater ist. Das jetzige Ich-Wesen, voller Aggressivität, Vorteilssuche und Illusionen, geboren aus irdischer Materie, kann nicht zu einem neuen Wesen, zum wieder gewonnenen Ebenbild Gottes werden. Es muss durch ein neues Wesen ersetzt werden, das in ihm zwar angelegt, aber seit langem durch die Arroganz des Ichs verschüttet worden ist – ein neues Bewusstsein, aus der Kraft Jesu und seinem eigenen Geistprinzip geboren, das die eigene Situation erkennt, das neue Leben fördert und das alte Leben langsam darin erlöschen lässt. Das ist die einzige Rolle, die das Ich auf dem spirituellen Weg noch zu spielen hat: bewusst abzudanken, damit das neue Wesen auferstehen kann. Und wenn das neue Leben aufersteht, werden seine Strukturen offenbar. Es zeigt sich, wie weit sie sich von den alten Strukturen unterscheiden.

 

Das wird von Jesus im Einzelnen in den folgenden Versen beschrieben. Sie sind die Darstellung dessen, was das neue, unsterbliche Wesen des Menschen von sich aus und ohne Selbstzwang ausführt. Sie schildern die neuen Möglichkeiten des Verhaltens im Vergleich zu den alten mosaischen Gesetzen: „Zu den Alten ist gesagt: Ich aber sage euch.“ Durch diese Schilderung regen sie eine neue Entwicklung im Schüler an. Es handelt sich um keine radikal neuen, noch strengeren Normen des Verhaltens. Dergleichen würde kein Mensch oder Schüler auch nur eine Stunde aushalten.

 

Jesus beschreibt zunächst das Wesen des neuen Menschen, den er selbst verkörpert und den er in seinen Schülern erwecken und fördern will. Er geht jeweils vom alten Jahwegesetz aus, um diesem das neue Seelengesetz, das er selbst bringt, gegenüberzustellen. „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist“ … „Ich aber sage euch.“

„Töten“ des Feindes ist die natürliche Reaktion des Urmenschen, der seine Existenz bedroht sieht. Die in unserer Gegenwart verbreitete Vorstellung vom „egoistischen Gen“ (Dawkins) bezieht sich auf diese Vorherrschaft der Aggressivität im Genom und dadurch im Charakter des Urmenschen, die auch heute noch wirksam ist. „Auge um Auge“ lautet die Devise, „wie du mir, so ich dir“. Der Ich-Mensch muss sein Leben kraftvoll verteidigen und sich selbst behaupten, wenn er überleben will. Das moralische Gesetz hatte eine gewisse Zivilisation innerhalb der Gesellschaft hervorgebracht, nicht jedoch in den Außenbeziehungen zwischen den Völkern. Darin ist Krieg auch heute noch eine bittere Realität.

Unter diesen Verhältnissen klingt die Lehre Jesu, dass nicht nur Töten, sondern Aggression und Zorn überhaupt der geistig-seelischen Entwicklung des Menschen und seiner Rückkehr in die Einheit mit Gott entgegenstehen, geradezu absurd. Doch ein Schüler auf dem spirituellen Weg, dazu erweckt durch die Lehre Jesu, erlebt die Wahrheit dieser Lehre. Sein Weg besteht darin, dass sein irdisches, durch dunklen Zorn bestimmtes Ich-Sein, durch ein neues, lichtes, den ganzen Leib durchdringendes Seelen-Sein ersetzt wird. Das ist kein Willensakt, der vom Ich ausginge und das Ich nur wieder stärken würde. Denn die neue, von Jesus verkündete Entwicklung entsteht aus dem Geistprinzip im Herzen des Menschen, das „aus Gott geboren“ und aggressionsfrei ist. Sie erfolgt nicht durch eine bessere, strengere, allerstrengste Moral des Ichs. Sie ist ein Zustand des Seins, in dem es keine Selbstbehauptung, keinen Zorn mehr gibt, nur ein selbstverständliches, aus Geist und Seele folgendes Leben, das aus neuen, den Zorn entwurzelnden Seelenkräften entsteht.

Ein Schüler, der in einem solchen Zustand lebt, fühlt sich unglücklich, sobald alte Aggressionen wieder aufleben und diesen reinen, hellen Zustand stören. Er bemerkt außerdem, dass er, wenn er tötet, auch das Leben überhaupt tötet, an dem er als neuer Mensch bewusst teilhat. Wenn er einen anderen Menschen zornig beschimpft und ihm insgeheim den Tod wünscht, verliert er den kraftvollen, klaren, wohltuenden Zustand der Zornlosigkeit, der in ihm schon herangewachsen war, gleichgültig, welche Grade die Beleidigungen annehmen, mit denen er den anderen attackiert. Jesus schildert diese Grade, um die Schüler darauf aufmerksam zu machen, dass sie schon durch bösartige Worte oder Gedanken den Seelenzustand des anderen verletzen, unter Umständen tödlich verletzen und selbst darunter leiden werden, weil dadurch auch ihr Zustand der Zornlosigkeit, in dem das göttliche Licht und Salz wirken kann, wieder verdorben wird. Wer dem Bruder „zürnt“, soll dem Gericht verfallen sein. Wer zu seinem Bruder sagt „Du Hund!“, soll dem Hohen Rat verfallen sein. Wer aber sagt „Du Idiot“, soll der Hölle mit ihrem Feuer verfallen sein. [Die Hölle ist ein nachtodlicher Zustand unerträglicher Gewissensbisse.].

Mit jeder Zornesaufwallung zerstört der Schüler auch in sich selbst einen Zustand der Achtung vor dem anderen, er schwächt einen stets ersehnten Zustand. Er wird darüber Schmerz empfinden und die Lehre Jesu als richtig erkennen. Der Schmerz wird ihn läutern und ihn auf die Dauer hindern, Zorn überhaupt entstehen, erst recht, ihm die Zügel schießen zu lassen. Der Unterschied zwischen einem Leben nach dem äußeren Gesetz der willentlichen Zornbeherrschung und einem Leben aus einem inneren Gesetz der allmählich ausbleibenden bösartigen Reaktion wird ihm deutlich werden.

Und wenn dann trotzdem die Beleidigung ausgesprochen, die Seelenverletzung des anderen erfolgt ist? Die Selbstbehauptung steckt dem irdischen Menschen so tief im Blut, dass er auch ohne weiteres annimmt, seine Ansicht der Dinge, seine Art zu leben und zu empfinden, sei die allgemein gültige Ansicht und Lebensart. Sobald jemand von dieser Vorstellung abweicht, fühlt sich der Ich-Mensch davon herausgefordert und sich in Frage gestellt. Und schon ist der Konflikt geboren, ohne dass es objektive Gründe dafür gäbe. Wie lange soll das noch andauern? Wie lange wird die gegenseitige Angst vor einer Retourkutsche wirken oder eine gegenseitige Verhärtung auf beiden Seiten?

 

Jesus macht Vorschläge: Versuche so schnell wie möglich den Konflikt mit deinem Gegner auszuräumen, ob er ihn selbst verursacht hat oder ob du es warst. Versuche es, „so lange du noch mit ihm unterwegs bist“ – das kann auch heißen, so lange du noch mit ihm auf der Erde lebst. Denn wenn du erst gestorben bist, ist die Wiedergutmachung nicht mehr möglich. Dann wirst du im Jenseits den ganzen Konflikt nacherleben müssen, vor allem auch  selbst den Schmerz, den du dem Gegner  zugefügt hast, und so lange, bis der Richter im Jenseits, die korrigierenden Kräfte, zufriedengestellt sind und dich frei lassen. „Versöhne dich also mit deinem Bruder“, so lange du noch lebst, damit du schon im Leben wieder zum Frieden findest und deine Verbindung zur göttlichen Welt nicht durch Erregung oder Vorwürfe störst. Denn das wäre der größte Schaden, den du für dich selbst durch mangelnde Versöhnungsbereitschaft anrichtest: du würdest auch „vor dem Altar“ deines Herzens, wo du Frieden und innere Entwicklung suchst, durch die Vergangenheit behindert werden.

 

 

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