07.07.24
Gnostisches Christentum - Forum für ein gnostisch-rosenkreuzerisches Christentum - 27. Brief
Briefe zum gnostischen Christentum
„Kommt und seht selbst!“ (Johannes 1, 39) München, Juli 2024
27. Brief: Was ist ein Opfer?
Reaktionen der Leser auf vorangegangene Briefe haben gezeigt, dass der Begriff "Opfer", der in der Tat sehr vieldeutig ist, nicht immer gut verstanden wurde. In diesem Brief soll daher versucht werden, den Begriff "Opfer" etwas näher zu bestimmen.
Mehrere Arten, Ursachen und Wirkungen eines Opfers
lassen sich unterscheiden.
Wichtig ist bereits die Unterscheidung zwischen Aktiv und Passiv. Man kann erstens aktiv ein Opfer bringen, sei es einen Besitz, eine Eigenschaft oder sich selbst. Zweitens kann man passiv selbst ein Opfer sein, man kann geopfert werden, man kann auch wollen, geopfert zu werden.
Meist sind beide Arten von Opfern, die aktive und die
passive miteinander verbunden, zum Beispiel wenn Menschen von vorgestellten
Göttern oder jenseitigen Wesen als passive Opfer missbraucht werden, während diese Wesen selbst solche Menschen für ihr
eigenes Wohlergehen aktiv hinopfern. Oder wenn in Völkern und Staaten
Herrschende und Beherrschte so auf einander bezogen sind, dass die Beherrschten
als passive Opfer der Herrschenden leben, während diese selbst aktiv die Opfer
ihrer Untergebenen verlangen und genießen.
1. Es gibt erstens Opfer, mit denen jemand sich selbst
oder etwas ihm Gehörendes opfert, um damit etwas für sich selbst zu gewinnen.
a. Eine sehr häufige Form dieser Art Opfer wird ausführlich im Alten Testament, 3. Buch Mose, beschrieben. Dort wird berichtet, wie dem Gott Jahwe Tiere: Stiere, Widder, Schafe, Ziegen oder Tauben geopfert werden. Dadurch kann der Opfernde die „Gnade“ Jahwes erlangen oder dessen „Zorn“ beschwichtigen. Jedes Opferritual im Alten Testament, sei es ein „Sühnopfer“, ein „Dankopfer“ oder ein „Rauchopfer“, muss bestimmte Bedingungen erfüllen, zum Beispiel was die Kleidung oder vorherige Reinigung des Opferpriesters betrifft, damit es von Jahwe angenommen wird .
b. Diese Opferrituale können Symbole dafür sein, dass der Mensch innere Eigenschaften, seelische Unreinheit zum Beispiel oder Aggression, dem Jahwe opfert, um sich von diesen Eigenschaften zu befreien und reiner als bisher vor Gott dazustehen. Die Priesterkleidung dabei ist dann die Beschreibung eines notwendigen inneren Zustands der Ruhe, Aufmerksamkeit oder Reue des Opfernden, und jede Tierart ist Sinnbild für die besondere Verfehlung oder Absicht, die mit dem Opfer verbunden sein kann.
Friedrich Weinreb hat das ganze 3. Buch Mose auf diese Art interpretiert. Es ist die Frage, welche Auffassung die frühere gewesen ist: die symbolische Bedeutung der Opfer und Rituale, oder die Absicht, mit den Opfern Jahwe günstig zu stimmen. Im ersten Fall wären die Opfer Darstellung der Schritte auf einem seelisch-geistigen Weg gewesen, im zweiten hätten sie den Sinn gehabt, Vorteile für das Ich zu erlangen.
Nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch
Titus wurde diese Opferpraxis im Judentum eingestellt, weil es keine würdige
Umgebung dafür mehr gab.
c. Aber in vielen Völkern bestand und besteht der Sinn der Opfer weiterhin darin, Vorteile von den Göttern oder Götzen zu erlangen.
Bei den Azteken zum Beispiel "brauchten" die
Götter Menschenblut als Nahrung und forderten sogar, dass ihren Feinden oder
auch bestimmten Angehörigen des Volkes das Herz bei lebendigem Leib aus der
Brust gerissen wurde, damit es möglichst kräftig wirkte. Auch Dämonen wurden
auf diese Weise durch Blut genährt und beschwichtigt. Für sie war Menschenblut
von höherer Qualität als Tierblut. Bei solchen Vorstellungen mussten die
Menschen in ständiger Angst leben, ob sie die Dämonen oder Götter auch richtig
ernährten, und scheuten nicht vor Gewalt zurück, diesen unersättlichen Geistern
Nachschub zu liefern.
Sehr weit entfernt von solchen Vorstellungen sind auch in der Gegenwart viele Menschen nicht, sogar in zivilisierten Völkern. Sie glauben, sie müssten ihre Lebenskraft oder die Ausübung von Ritualen für jenseitige Wesen opfern, die aus dem Reich der Toten heraus ins Diesseits hinein wirken wollen. Diese jenseitigen Wesen geben vor, das Opfer seelischer Kräfte der im Diesseits lebenden Menschen zu benötigen, etwa in Form von Gebeten, Hingabe und Frömmigkeit, um einzelne Seelen oder gar die ganze Menschheit höher zu entwickeln oder zu retten. In Wirklichkeit benützen solche Jenseitigen die diesseitigen Menschen für ihr eigenes Weiterleben im Jenseits. Derartige Praktiken sind jedoch nichts anderes als aktives Hinopfern gutwilliger Seelen, die passiv von den Jenseitigen ausgebeutet, also "geopfert" werden.
Heutige Psychiater beurteilen Menschen, die, oft
unbewusst, als passive Opfer solcher jenseitigen Wesen leben, als krankhaft und
behandeln sie mit Medikamenten. Doch den Glauben dieser Menschen an Dämonen und
Geister können sie nicht beseitigen, und die Kranken letzten Endes nicht
heilen. Dazu würde die Fähigkeit gehören, ins Jenseits zu blicken und vor allem
stetige Liebe für diese Patienten freizusetzen, damit sie selbstständig würden
und sich selbst von ihrer Hörigkeit gegenüber jenseitigen Wesen befreien
könnten.
d. Auch jeder zivilisierte Mensch lässt Tiere zu seiner Nahrung töten oder lässt zu, dass sie als Opfer für medizinische Zwecke ausgenützt werden. Ebenso selbstverständlich sind Opferbeziehungen zwischen Herrschenden und Untergebenen in Völkern und Staaten. Wie viele Menschen in zivilisierten Gesellschaften werden mitleidslos und raffiniert ausgebeutet, um mit ihrer Arbeitskraft Reichen und Mächtigen zu dienen! Sie werden von und für ihre Herren geopfert, die sich Wohlstand und Freiheit auf Kosten anderer Menschen verschaffen und ihr Glück noch nicht einmal in Ruhe genießen können, weil sie stets die Reaktionen ihrer Opfer fürchten müssen.
Aber schon die gesetzmäßigen Abläufe des irdischen Lebens
zwingen die Menschen immer wieder zu Opfern an Gesundheit, Geld und Gut. Um
Seuchen zu bekämpfen, werden weltweit von den Staaten Opfer der Bürger an
Freiheit verlangt. Auch zur Verteidigung oder zu Überfällen auf andere Völker
verlangen Staaten Opfer an Leben und Gütern von ihrer Bevölkerung.
2. Nun zu einer ganz anderen Art von Opfer: dem Selbstopfer.
Es setzt etwas Inneres frei, das bisher unter etwas Äußerem verborgen war, und
sich jetzt, nachdem es das Äußere verwandelt hat, in diesem Äußeren ausdrückt.
Es bedeutet also Freiheit für etwas Inneres, das bisher unsichtbar oder
verborgen war und nun Gestalt geworden ist und anderen dient.
a. Ein Beispiel ist der „Großmensch Purusha“ im
Hinduismus. Durch sein Selbstopfer ist der Kosmos entstanden. Purusha lässt
nämlich alles, was er ist, sein ganzes Wesen, alle Eigenschaften und
Organe seiner Geistseele, in einen großen kosmischen „Ausdruck“ eingehen.
Dieser Ausdruck erscheint jetzt dem Auge des individuellen Menschen als die
sichtbare Welt, als der „Große Mensch“. Alle Kräfte und Eigenschaften des
„Großen Menschen“ Purusha sind von innen nach außen gegangen, haben sich auf
diese Weise sichtbar gemacht und bleiben es für lange Zeiten, um der sich
entwickelnden Menschheit als Wohnort zu dienen.
b. Ähnlich arbeitet ein Künstler. Er lässt seine
Vorstellungen, seine Kräfte und sein ganzes Ich in sein Werk eingehen, in
welchem sie äußere Gestalt annehmen. Das kann er sein ganzes Leben über tun –
er „opfert“ sein Inneres für sein äußeres Werk. Sein Inneres wird äußerer
Ausdruck. Das Innere wird „entfaltet“ und dadurch sichtbar. Dieses Selbstopfer
des Künstlers, das durch sein Werk aus der Verborgenheit oder Unwirksamkeit
hervortritt, bedeutet Freiheit für sein Inneres. Es wird, wenn im Künstler
nicht Gefallsucht, Ruhmsucht oder Geldgier den Ton angeben, vom Betrachter,
Hörer oder Leser als "Schönheit" empfunden werden. "Das Schöne
ist der Glanz des Wahren", hat ein berühmter Gnostiker, Philo von
Alexandria, gesagt. Friedrich Schiller hat es so ausgedrückt: "Was uns als
Schönheit hier begegnet, wird uns als Wahrheit einst entgegengehn." Wenn
das Werk eines Künstlers von solcher Wahrheit und Liebe zeugt, kann und wird es
den Betrachter nicht nur erfreuen, sondern ihm auch Kraft für die Gestaltung
seines Lebens geben.
c. Ähnlich kann zum Beispiel auch eine Mutter ihren ganzen Alltag für ihre Kinder geben und damit ein großes Opfer bringen. Sie hat gar kein eigenes Leben mehr. Wenn sie sich auf diese Weise wegschenkt, kann das für sie befriedigend sein und ihr Freude machen. Das kann bis zur Auszehrung ihrer Kräfte gehen, das kann ihr auch Schmerz bereiten, wenn die Kinder nicht so werden, wie sie sich's wünscht, das kann Verzicht auf eigenes Glück bedeuten. Aber es ist möglich, dass ihr ihre Kinder wichtiger sind als ihr eigenes Leben. Denn sie bekommt etwas dafür: das Gefühl, für andere zu leben. Diese Art Opfer bleibt jedoch noch im Rahmen irdischer Beziehungen.
3. Anders aber steht es beim spirituellen Lebens-Opfer
eines Eingeweihten für die Menschheit oder seine Schüler.
a. Wenn Christus sein Leben, heute wie damals, für die Erlösung der Menschheit "opfert", befreit er seine Liebe, die sein Wesen ist, für die äußere Welt: für ihre Erhaltung, Entwicklung, und spirituellen Reifung, oder schon für die Rückführung der von Gott getrennten Menschheit zum Vater und in den Vater, aus dem sie hervorgegangen ist und weiter hervorgeht. Er, Christus, der Sohn, wird dann durch sein Opfer zum Ausdruck des Vaters. Sein Inneres, seine Liebe, geht in sein Äußeres ein, in die vom Vater getrennte Menschheit, bleibt darin und wirkt darin so lange, bis sein Äußeres dem Inneren, dem Vater, wieder gleicht und mit ihm vereinigt ist. Sein Inneres gibt seine Substanz und Energie in die äußere Gestalt der Menschheit und ihres Wohnorts Erde, erschafft diese neu, trägt sie, entwickelt sie und bleibt beständig in ihr.
Solange dieser Christus sein Werk noch nicht ganz vollbracht hat, weil die Menschheit ihrem Ursprung, dem „Vater“, noch nicht wieder entspricht, wird er diese Disharmonie zwischen Innen und Außen erdulden, bis sie aufgehoben ist. Nur so erfüllt er den Sinn seines Daseins als Sohn des Vaters. Das ist sein Glück und seine Freude. Solange dieses Ziel noch nicht erreicht ist, leidet er unter der Spannung zwischen Innen und Außen, an der fehlenden Deckungsgleichheit von Inhalt und Ausdruck.
Sollten ihm die Menschen nicht dankbar sein, dass seine Liebe sie in ihr göttliches Dasein im Vater zurückführt? Sollten sie auf diese Liebe nicht so reagieren, dass sie sie in ihr Inneres einlassen und dort als neues Blut und Fleisch wirken lassen, bis sie selbst, vielleicht nach vielen Inkarnationen, dem inneren Christus wieder gleichen und wie er mit einem verwandelten Leib unsterblich auferstehen?
Dieses Opfer des Christus Jesus wird aber häufig falsch verstanden. Richtig verstanden, ist es ein freiwilliges Opfer, kein Opfer auf Befehl des "Vaters". Es gibt aber die Auffassung, dass der "Vater" seine ungehorsamen Kinder, die Menschen, ihrer Sünden wegen strafen müsse, und dass der Tod diese Strafe sei. Jesus nehme diese "Strafe" freiwillig auf sich, und so werde ein Unschuldiger stellvertretend für alle Schuldigen als Opferlamm "geschlachtet", damit der "Zorn des Vaters über die Menschen gestillt werde und seine Liebe wieder wirken könne. Die "Entsühnung" der Menschen durch den Gottessohn werde den Menschen, die an diese Vorstellung glauben, das ewige Leben schenken. Aber das ist eine irrige Konstruktion, welche nur der Bequemlichkeit der Gläubigen Vorschub leistet, statt ihre eigene Arbeit zur inneren Freiheit zu unterstützen.
Jesus wird nicht von seinem Vater
"geopfert". Er opfert sein eigenes sterbliches Ich, in das er
freiwillig inkarniert ist, damit das wahre, unter dem eigenwilligen Ich
verborgene unsterbliche Selbst zum Vorschein komme. Das ist der Sinn seiner
Inkarnation in einen sterblichen Menschen. Er opfert aus Liebe, in der
Liebe des "Vaters", nicht auf "Befehl" seines Vaters, sein irdisches Ich, damit durch sein
Beispiel auch alle anderen Menschen, die sich für seine Kraft öffnen, ihr
sterbliches Ich opfern können. Dadurch wird auch ihr bisher unterdrücktes
wahres, unsterbliches Selbst frei werden.
b. Der Weg des Schülers der Gnosis, des Rosenkreuzers, besteht darin, dass er ebenfalls sein egozentrisches Wesen, sein irdisches Ich, schrittweise und bewusst im Christus-Ich, das in ihm wirkt, "untergehen" lässt, "opfert", wodurch ein neues, unsterbliches Ich in ihm aufersteht. Er wird, wie die Rosenkreuzer sagen, im "Heiligen Geist wiedergeboren". Der Weg des wahren Christentums besteht also darin, dass die alte Natur der Persönlichkeit, das sterbliche Ich, sich für die neue Natur der Seele und für die Auferstehung des Geistes "opfert", wodurch ein neues, unsterbliches Leben entsteht. „Wer sein Leben verliert um meinetwillen, wird es, das neue Leben, finden.“ Umgekehrt lässt sich sagen: Nur wer eine neue Lebenskraft in sich einlässt, kann in ihr das alte Leben verlieren.
Kann aber ein irdisches Ich so etwas wollen? Kann es sich willentlich für etwas Neues opfern? Das „Opfer“ des alten Ichs ist nur dadurch möglich, dass die neue Seele und der Geist, die schon immer im Menschen geschlummert hatten, aufwachen, diesem Menschen eine neue Lebensgrundlage geben und es so dem Ich ermöglichen, durch diese neue Kraft, in dieser neuen Kraft zurückzutreten. Die Geistseele drückt sich dann, nachdem das alte, irdische Ich darin aufgegangen ist, als „neues Ich“ aus.
Dieses neue Ich, ihr unsterblicher Leib, ist ihr durch den Befreiungsweg aufgebauter "neuer Tempel", der Tempel, in dem die göttliche Liebe wirkt. Diese opfert sich auch in ihm für die Entwicklung der Menschheit und der Welt.
Denn Sich-Opfern ist die Art und Weise, wie die Wesen in der göttlichen Welt leben. Sie drücken sich, das ist ihre Liebe, Weisheit und Kraft, im Kosmos für alle anderen Wesen aus. Auch durch die Schüler des Christus opfert sich die göttliche Liebe für die Entwicklung der Welt und des Kosmos zu immer größerer Herrlichkeit. Das Selbst-Opfer ist die Art und Weise, wie sich der Kosmos und die Wesen darin entwickeln.
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