08.11.24
Gnostisches Christentum - Forum für ein gnostisch-rosenkreuzerisches Christentum - 29. Brief
Briefe zum gnostischen Christentum
„Kommt und seht selbst!“ (Johannes 1, 39)
München, November 2024
29. Brief
Der Weg des Christus Jesus und der Weg seiner Schüler
(Anmerkung: Wenn im folgenden immer wieder zwischen Jahwe und den Elohim unterschieden wird, so beruht das auf den unterschiedlichen Schöpfungsberichten im Alten Testament. Die erste, vollkommene Weltschöpfung geschah durch die Elohim (1. Mose 1 – 2, 3), von der sieben mal gesagt wird: „Und siehe, es war sehr gut!“ Die zweite, unvollkommene Weltschöpfung geschah durch Jahwe (ab 1. Mose 2,3 bis auf weiteres), in der gewiss nicht alles „gut“ war. Wenn Jesus der Christus sich als „Sohn Gottes“ bezeichnet, dann kann er nur den Elohim-Gott gemeint haben, aus dem seine Freiheit stammte, nicht den Jahwe-Gott, der das Gesetz verkörpert.)
Jesus brachte das Opfer seines Seins, das die göttliche Liebe selbst ist. Er inkarnierte freiwillig in die Dunkelheit der irdischen Welt, in das enge Gefängnis einer sterblichen Ich-Persönlichkeit, um in ihr einen Weg der Befreiung aus der irdischen Welt zu gehen und anderen den selben Weg der Befreiung ihres Geistprinzips aus der irdischen Persönlichkeit zu ermöglichen.
Paulus drückte das so aus: "Christus Jesus, der, als er in Gottes Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub (das heißt: klammerte sich nicht wie an ein ihm nicht zustehendes Privileg), wie Gott zu sein, sondern er ent-äußerte sich selbst, indem er Knechtsgestalt annahm und den Menschen ähnlich wurde ..." (Philipper 2, 5-7). Er verzichtete dadurch für einige Jahre nach seiner Geburt auf die Ausdrucksmöglichkeit seines Geistprinzips, die sich erst allmählich wieder einstellte, in dem Maß, wie die Knechtsgestalt zurücktrat.
Der Weg seiner Schüler, damals wie heute, orientierte sich daran.
Man kann annehmen, dass die Gottesgestalt des Christus Jesus, ein ursprünglicher Mikrokosmos, der stets in der Einheit mit dem Schöpfer verblieben war, zunächst in der Nähe des Jesussäuglings – der Knechtsgestalt – blieb, um dann, wie beim Inkarnationsprozess allgemein üblich, nach drei Monaten den Säugling zu umfangen, In dem Maß aber, wie sich der Säugling zum Kleinkind, dann zum jungen Mann und schließlich zum Erwachsenen entwickelte, konnte sich die Gottesgestalt des Christus Jesus, dieser ursprüngliche göttliche Mikrokosmos, durch die den Befreiungsweg gehende Knechtsgestalt des Jesus wieder vollständig ausdrücken. Entsprechend der zunehmenden Wirksamkeit der Gottesgestalt entwickelte sich auch die Knechtsgestalt, in die sich der Christus-Mikrokosmos inkarniert hatte, nach ihren geringeren Möglichkeiten.
Normalerweise verliert ein Mikrokosmos durch seine Inkarnation in eine „Knechtsgestalt“ notgedrungen seine ursprünglichen Vermögen und muss sie im Lauf der Entwicklung der Knechtsgestalt allmählich wiedergewinnen. Die Gottesgestalt des Christus jedoch, deren er sich vor seiner Inkarnation in einen sterblichen Menschen "entäußert" hatte, war schon vollkommen entwickelt gewesen und musste nicht erst neu aufgebaut bzw. wiederbelebt werden. Beim Befreiungsweg des Jesus hatte ein schon immer mit Gott vereinigter, freier Mikrokosmos durch die Inkarnation in einer Knechtsgestalt von Anfang an auf seine freie Ausdrucksmöglichkeit freiwillig verzichtet – das ist es, was Paulus „Selbst-Entäußerung“ nennt – , und gewann in dem Maß, wie die Knechtsgestalt des Jesus sich ihm übergab, Schritt für Schritt seine durch die Selbstentäußerung freiwillig preisgegebene Ausdrucksmöglichkeit zurück.
Die Gottesgestalt des Christus hatte also als niemals von Gott getrennte, ursprüngliche Gottesgestalt die Knechtsgestalt eines Kindes namens Jesus umgeben. Sie hatte dadurch zwar zunächst ihre Ausdrucksmöglichkeit preisgegeben. Aber durch die von ihr umfangene Knechtsgestalt, die mit ihrer Hilfe einen befreienden Weg ging, gewann diese ursprüngliche Gottesgestalt Schritt für Schritt ihre Ausdrucksmöglichkeit zurück. Die sterbliche Knechtsgestalt gab durch ihren, vom Christus-Mikrokosmos ermöglichten Weg, auf dem sie sich langsam veränderte, transfigurierte und als „alter Tempel“ abgebrochen wurde, der ursprünglichen Gottesgestalt sogar eine neue Ausdrucksmöglichkeit: Die Gottesgestalt baute sich einen neuen, unsterblichen Geistleib auf – einen „neuen Tempel“ („Jesus sprach zu den Juden: Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn wiedererstehen lassen... Er sprach aber von dem Tempel seines Leibes.“ (Johannes 2, 19 und 21)
Der ursprüngliche, stets mit dem Schöpfer vereinigte Mikrokosmos, der heute Christus genannt wird, inkarnierte also in eine sterbliche „Knechtsgestalt“ namens Jesus. In dem Maß, wie sich dieser ursprüngliche Mikrokosmos mit der alten sterblichen „Knechtsgestalt“ namens Jesus samt ihrem Karma verband und dieses auflöste, baute er einen neuen, unsterblichen Geistleib auf und erhielt so nicht nur seine alte Ausdrucksmöglichkeit zurück, sondern erhöhte auch die Glorie des ursprünglichen Mikrokosmos durch die Erfahrungen in der irdischen Welt, die er im Lauf seiner Verbundenheit mit dem irdischen Körper des Jesus von dessen Geburt an bis zu dessen Tod machte. (Das Karma der „Knechtsgestalt wird durch die beiden in den Evangelien enthaltenen „Stammbäume Jesu“ beschrieben: das Karma der Priestervorfahren durch den Stammbaum bei Lukas 3, 23- 37, der Stammbaum der Königsvorfahren bei Matthäus 1, 1-17.)
Wesentlich ist dabei immer: Jesus, die sterbliche Knechtsgestalt, und der unsterbliche Christus-Mikrokosmos gingen ihren Weg gemeinsam, bis sich eine unlösliche Verbindung zwischen der unsterblichen neuen Persönlichkeit und dem Mikrokosmos ergeben hatte. Der Mikrokosmos nahm die Erfahrungen, die er in der irdischen Welt machte, in sich auf, und die veränderte, unsterbliche Persönlichkeit wurde Schritt für Schritt zu einem Werkzeug, das fortan auch in der irdischen Welt wirken konnte. So war eine neue, unverbrüchliche Verbindung zwischen der göttlichen und der irdischen Welt entstanden, die in der Zukunft für die Menschheit fortwirkte. Denn das Ziel dieser Verbindung war nicht in erster Linie die Verherrlichung des Christus-Mikrokosmos, sondern die Erhebung der ganzen Menschheit in den ursprünglichen Zustand, den sie durch ihre Trennung von der göttlichen Welt verloren hatte.
Wesentlich war dabei auch, dass nur durch die Mitarbeit des irdischen Menschen, der „Knechtsgestalt“, diese Trennung aufgehoben werden konnte. Ohne diese Mitarbeit wäre die Bemühung der göttlichen Welt vergeblich gewesen. Jesus der Christus hatte sein Werk nicht vor allem für sich selbst vollbracht. Er war seinen Weg gegangen, um allen anderen Menschen diesen Weg ebenfalls zu ermöglichen. Dadurch, dass ein irdischer Mensch mit Hilfe des Christus-Mikrokosmos diesen Weg vollbrachte, schuf er die Möglichkeit für alle anderen irdischen Menschen, ihn ebenfalls zu gehen, sei es auch in ihren schwächeren Kräften. Denn alle Menschen sind als Menschheit wie die Zellen eines Organismus mit einander und seit Jesus dem Christus mit dem Christus-Mikrokosmos verbunden.
Jesus ist diesen Weg gegangen, um ein Muster für den Weg seiner späteren Schüler zu geben. All seine Schritte wäre er vergeblich gegangen, wenn nicht seine Nachfolger und Schüler wenigstens versuchen würden, sie nachzuvollziehen und sich dadurch ebenfalls von Grund auf zu verändern. Es genügt nicht, daran zu glauben, dass er die Menschen schon zum ewigen Leben erlöst hat.
Man kann diesen Weg in fünf große Schritte unterteilen.
Erster Schritt:
Der Christus-Mikrokosmos verbindet sich immer inniger mit dem sterblichen Jesusleib, in den er sich inkarniert hatte, und gibt der Seele des 12-jährigen, sterblichen Jesus eine neue Ausdrucksmöglichkeit. Die Weisheit des Christus-Mikrokosmos wird in dieser Seele wach und wirkt durch sie. Darin ist die erstaunliche Überlegenheit des jungen Jesus über die Schriftgelehrten, mit denen er im Tempel diskutiert, begründet. (In der Bibel ist vom „zwölfjährigen Jesus“ die Rede. „Zwölf“ ist eine symbolische Zahl für Vollständigkeit.) Der Verstand von Jesus wird mit den Kräften des Christus-Mikrokosmos erfüllt und ist jedem Argument, das ihm von Seiten der dogmatischen Jahwe-Gelehrten über welches Problem auch immer vorgetragen wird, gewachsen. Denn dieser Verstand ist jetzt schon in der neuen Christusweisheit verwurzelt.
Da einmal ein Mensch diesen neuen, un-irdischen Verstand erlangt hat, wird es möglich, dass jeder dazu bereite Mensch, sei es auch in seinen schwächeren Kräften, ähnlich die überlieferten Dogmen einer alten Religion in einer neuen Weisheit erkennt und dadurch überwindet. Das ist die erste Aufgabe auch jedes heutigen irdischen Menschen, der vom Christus-Mikrokosmos berührt ist und darauf antworten will. Er wird, in der Kraft des Christus, mit einem neuen Denken die überlieferten Dogmen, welcher Religion auch immer, einer Revision unterziehen.
Zweiter Schritt:
Der Christus-Mikrokosmos umgibt das irdische Begierdenwesen (den „Astralleib“) von Jesus. In einer asketischen Gemeinschaft des damaligen Judentums, wohl der Essener oder Nazoräer (griechisch Nasiräer, siehe Buch der Richter im Alten Testament, Kapitel 13), einer Gemeinschaft von „Gottgeweihten“, geleitet vielleicht von Johannes dem Täufer, erkennt Jesus im Verlauf der Jugendjahre jeden Aspekt des irdischen Begierdenwesens seiner Knechtsgestalt, in die sich der göttliche Mikrokosmos, die „Gottesgestalt“ inkarniert hatte. Durch diese Erkenntnis und Kraft eines neuen Astralleibs wird das irdische Begierdenwesen erkannt und allmählich durch eine absolute Hingabe an die zu befreienden irdischen Menschen ersetzt. Alle irdische Leidenschaftlichkeit macht einer stetigen, kraftvollen freien Hingabe an die göttliche Welt Platz.
Symbol für dieses Ergebnis ist die Wassertaufe von Jesus durch Johannes den Täufer im Jordan, dem fließenden Wasser der Reinigung des Begierdenwesens durch „Reue und Buße“ des Asketen. Das „Wasser“ ist Sinnbild für die neue, begierdelose Seelensubstanz, die in Jesus herangewachsen ist. Ähnliches wird vom Buddha berichtet. Und wie beim Buddha ist die neue Fähigkeit der Hingabe von Jesus nicht ein Ergebnis zwanghafter Unterdrückung der irdischen Begierden (der Buddha spricht vom „mittleren Weg“). Es geht statt dessen um ein selbstständiges Abwägen, wann und wo die noch irdische, aber allmählich gottdienende Hingabe vom künftigen Eingeweihten angebracht ist, oder nicht. (Im Alten Testament wird so eine Gemeinschaft und ein daraus hervorgehender Gottgeweihter kurz beschrieben: zum Beispiel im „Buch der Richter“ Kap. 13, 5 und 25).
Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde diese asketische Phase im Leben von Jesus in den Bibelübersetzungen verschwiegen. Jesus trug dort bei allen Gelegenheiten den Beinamen „Der Nazarener“, das heißt, der „Mann aus Nazareth“. Erst seit einiger Zeit unterscheiden die Bibelsetzer wiederum zwei Beinamen von Jesus. Wenn seine Herkunft aus Nazareth gemeint ist, heißt er „Jesus der Nazarener“. Bezieht sich der biblische Bericht des griechischen Neuen Testaments jedoch auf das Leben von Jesus in der mehr oder weniger asketischen Gemeinschaft der Essener – oder Nasiräer – so trägt Jesus den Beinamen „Nazoräer“ (die griechische Fassung von „Nasiräer“). Über dem Kreuz steht also in den heutigen Bibeln nicht mehr die Inschrift „Jesus Nazarenus ...“, sondern „Jesus Nazoraios, König der Juden“.
Wer jedoch heutzutage einen ähnlichen Weg gehen will wie Jesus, braucht das nicht unbedingt in einer asketischen Gemeinschaft zu tun, Im Gegenteil: Gerade die von Jesus gebrachte innere Freiheit und Selbstständigkeit verlangt von ihm, dass er sich immer wieder bewusst und individuell mit den irdischen Wünschen und Begierden, die in ihm auftauchen, auseinandersetzt. Er wird durch seine Verbundenheit mit den überall, auch in ihm selbst wirkenden Christuskräften, selbst bemerken, wann und wo er diesen Wünschen nicht folgen sollte. Auch sein irdisches Wesen braucht Freiheit, sich zu entfalten und das irdische Leben in Glück oder Unglück zu bestehen. Sein innerer Kompass, die im Herzen wirkende Jesuskraft, wird es ihm sagen. Aber im Lauf der Zeit wird die absolute Hingabe an das Göttliche im eigenen Wesen, in Freiheit verwirklicht, zu einem Merkmal dieses Menschen werden.
Dritter Schritt:
Nach der Reinigung der Seele von irdischen Begierden und Leidenschaften geschieht die Feuertaufe von Jesus am Jordan. Der heilige Geist tritt in die Knechtsgestalt von Jesus ein. Es zeigt sich eine absolute Freiheit von Eigenmächtigkeit. Die Bibel benützt auch hier ein Bild für einen bedeutsamen inneren Vorgang. Die Feuer- und Friedenskraft des heiligen Geistes wird durch das „Licht“ und die „Taube“ dargestellt, und die aus dem Himmel ertönende „Stimme“ des Elohim-Gottes, des „Vaters des Christus“, ist nur für die Geistes-Ohren des durch das Feuer der göttlichen Selbstständigkeit Getauften hörbar. Jesus, der jetzt mit dem Feuer des heiligen Geistes Getaufte, („Christus“ heißt auf griechisch der „Getaufte“, auf hebräisch „Maschiach“, was im Griechischen zu „Messias“ wurde) wird sich seiner Beziehung zu dem Schöpfergott Elohim bewusst und seiner daraus folgenden Würde und Selbstständigkeit als „Sohn Gottes“ (als Sohn der Elohim, des Geistgottes, nicht des Jahwe, des Gesetzesgottes). Dadurch wird ihm auch seine Aufgabe als Christus in der irdischen Welt bewusst, als „Sohn Gottes“.
Aber gerade dieses Bewusstsein von seiner Aufgabe in der irdischen Welt ruft in der Tiefe seiner Seele auch alle Kräfte der irdischen Eigenmächtigkeit wach, die ihre Herrschaft über ihn behaupten wollen. Er erkennt diese Kräfte, er erkennt den Charakter der irdischen Welt, und sofort tritt der Teufel, der Herr dieser Welt, Verkörperung der Eigenmächtigkeit, an ihn heran und versucht, die in Jesus noch wirkenden irdischen Kräfte der Eigenmächtigkeit zu mobilisieren.
Gerade der Eintritt des heiligen Geistes ins Bewusstsein macht nicht nur in Jesus, dem Christus, sondern später auch in dessen Schülern, die den dritten Schritt auf dem Erlösungsweg gehen wollen, bewusst, in welcher „Wüste“ sie sich in der irdischen Welt befinden. Nirgendwo in der irdischen Welt findet Jesus und später jeder seiner Schüler Nahrung für seinen Hunger nach Lebenssinn und Lebensfreude. An diesem Zustand knüpft der Satan an und verspricht ihm Stillung dieses Hungers. Er schlägt ihm drei Möglichkeiten vor, aus Eigenmächtigkeit zu handeln, und spricht etwa so (zum Beispiel Lukas 4, 1-13): Erstens kannst du dir die Illusion machen, die „Steine“ in dieser Wüste – Kapital, Geld und Besitz – seien der eigentliche Reichtum dieser Welt, und du könntest in deinen neuen Kräften als Eingeweihter alle irdische Armut beseitigen. Zweitens kannst du dir einbilden, die Macht sei das höchste, sinnvollste Ziel in dieser “Wüste“ der Sinnlosigkeit. Und drittens kannst du höchstes Prestige und Einfluss zu erlangen suchen, vielleicht sogar als spiritueller Führer, und dich selbst betrügen, als hättest du dadurch die Sinnwüste überwunden.
Der Zustand der gottdienenden Selbstständigkeit und Überwindung jeder Eigenmächtigkeit, den Jesus in der dritten Phase seiner Entwicklung gewonnen hat, wird später im Evangelium durch die Szene der „Verklärung“ auf dem Berg Tabor dargestellt. Der Geist des Christus-Mikrokosmos hat den Geist des an Kraft und Bewusstsein wachsenden Jesus-Mikrokosmos weitgehend durchdrungen, und demonstriert, dass Jesus seine ersten drei Seelenhüllen transfiguriert hat: „Denken, Wollen und Fühlen“. Das wird so beschrieben, dass die „Kleider“ von Jesus, seine Seelenhüllen, „weißer sind, als sie ein Färber auf Erden machen könnte“ (Markus 9, 3). Und sein „Antlitz“, das ist sein vom Geist durchdrungenes gottdienendes, selbstständiges Bewusstsein, „leuchtet wie die Sonne“ (Matthäus 17, 2).
Von jetzt an sammelt Jesus Schüler um sich und bringt ihnen und seinen Hörern neues Leben und neue Kräfte. Das neue Leben stellt er in der „Bergpredigt“ dar. Es ist eine neue Verfassung der Seele, das sich in einem neuen Verhalten ausdrückt. Ein Schüler von Jesus lebt aus der neuen Seelenkraft, die ihm Jesus überträgt, und vermittelt sie auch anderen Menschen, die Resonanz dazu zeigen. Er wirkt nicht missionarisch, sondern die neue Seelenkraft geht, ohne dass er es eigens beabsichtigt, als Strahlung von ihm aus. So kommen Heilungen zustande und Speisungen mit neuen, unerschöpflichen Seelenkräften. Jesus erhält diese aus der göttlichen Welt und gibt sie transformiert an seine Schüler weiter, die sie ihrerseits für dafür empfängliche Menschen verbreiten. Die sogenannten „Wunder“ der Speisungen der 5000 und 4000 Hungrigen sind nichts anderes als selbstverständliche Wirkungen dieser neuen Seelenkräfte. Sie bewirken als sieben „Brote“ unerschöpfliche neue Kraft in den Empfängern, die ihrerseits diese Kraft weitergeben, und als zwei „Fische“ unerschöpfliche neue Hoffnung, die durch Weitergabe nicht abnimmt. Das ist die „wunderbare“ Vermehrung von „Broten“ und „Fischen“. (Matthäus 14 und 15)
In der Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten der Jahwe-Religion legt Jesus die Unterschiede zum neuen Leben aus dem göttlichen Vater dar. Doch in der Regel sind sie nicht aufnahmefähig für seine Kräfte und sein Wesen als Christus. Er ist von „oben her, sie sind von unten her“ (Johannes 8, 23). Sie können nicht begreifen, dass eine undogmatische, freie Seele vor ihnen steht, werfen ihm Anmaßung vor und planen seinen Tod.
Im letzten Abendmahl mit seinen Schülern verbindet Jesus seine Geist- und Seelenkräfte wirksam und in Form eines Rituals mit ihnen und allen künftigen Schülern:
Der „Wein“ symbolisiert sein göttliches Blut, das „Brot“ seinen göttlichen, transfigurierten Leib, was beides nach seiner Auferstehung unlöslich mit der Menschheit verbunden bleibt und jedem dazu bereiten Menschen den Weg zur Freiheit ermöglicht.
Damit ist Jesus bereit, den vierten Schritt seines Weges zu vollbringen.
Vierter Schritt
Die Ergebnisse des dritten Schrittes waren im Evangelium in der Szene der „Verklärung“ auf dem Berg Tabor dargestellt worden. Der Geist des Christus-Mikrokosmos hatte den Geist des an Kraft und Bewusstsein wachsenden Jesus-Mikrokosmos weitgehend durchdrungen, und demonstriert, dass Jesus seine ersten drei Seelenhüllen transfiguriert hatte: „Denken, Fühlen und Wollen“. Das wurde so beschrieben, dass die „Kleider“ von Jesus, seine Seelenhüllen, „weißer sind als sie ein Färber auf Erden machen könnte“ (Markus 9, 3). Und sein „Antlitz“, das ist sein vom Geist durchdrungenes Bewusstsein, leuchtet wie die Sonne“ (Matthäus 17, 2).
Aber die vierte Seelenhülle, der Körper, ist noch nicht vollkommen verändert. Das vollbringt Jesus im Garten Gethsemane, wo er den biologischen Selbsterhaltungstrieb seines Körpers in den göttlichen Kräften auflösen lässt. Sein irdischer Körper hat sich so stark mit seinem göttlichen Mikrokosmos verbunden, dass diese letzte, schwerste Aufgabe vollbracht werden kann. Man kann hier von der vierten und letzten Versuchung sprechen, die auf Jesus zukommt. Lukas hatte seinerzeit geschrieben, dass nach den ersten drei Versuchungen noch einmal der Versucher auftreten würde: „Und nachdem der Teufel alle Versuchung vollendet hatte, stand er von ihm ab bis zu gelegener Zeit.“ (Lukas 4, 13) Diese für den Teufel „gelegene Zeit“ ist nun gekommen.
Um seine Aufgabe vollständig zu vollbringen, muss Jesus der Christus auch noch diese letzte, schwerste Versuchung bestehen. Es ist der Tiefpunkt seines Weges zur Befreiung von den irdischen Kräften. Der Selbsterhaltungstrieb des „Körpers“ ist im tiefsten Punkt des Rückgrats lokalisiert, von wo aus er in Gestalt des „Teufels“ noch einmal die Macht über alle anderen, schon erneuerten Seelenkräfte gewinnen möchte. „Jesus geriet in angstvollen Kampf“ (Lukas 22, 44). Aber die Verbindung zum göttlichen Vater war stark genug, um ihn auch diese tiefste Angst überwinden zu lassen: „Vater, wenn du willst, so lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ Jesus stellt seine Todesangst vor die in ihm gewachsene Kraft des „Vaters“ und lässt von dieser seinen Tiefpunkt überwinden.
Damit ist auch die letzte, vierte Seelenhülle, die seinerzeit bei der “Verklärung“ noch nicht vom Licht des „Vaters“ durchdrungen worden war, „verklärt“, transfiguriert worden. Ein neuer vierfacher, unsterblicher Leib, ein neuer „Tempel“, ist gebaut, der Tempel der Auferstehung. Solange Jesus noch lebt, wird zwar dieser neue Leib äußerlich verborgen sein und der alte Leib bis zu einem gewissen Grad noch arbeiten. Jesus wird ja noch den weltlichen und geistlichen Richtern gegenübertreten, um seine Hoheit zu bekunden, und den irdischen Leib kreuzigen lassen, um auch diese Qual noch zu erdulden. Aber der unsterbliche Auferstehungsleib, die vollständige Transfiguration der wesentlichen Teile des irdischen Leibes, ist vollbracht, der Tod ist überwunden.
Alle vier Hüllen der Knechtsgestalt Jesu sind nun vom Jesus-Mikrokosmos mit Hilfe des Christus-Mikrokosmos durchdrungen und zum Teil verändert. Der neue, vierfache Leib Jesu ist unsterblich geworden.
Fünfter Schritt:
Auch in seinen Schülern ist dieser unsterbliche Leib, unsichtbar unter dem äußeren Körper, herangewachsen. Für sie besteht nun die Aufgabe darin, das Karma, das im Beckenbereich dieses Körpers verankert ist, in den göttlichen Kräften zu erkennen, dadurch frei davon zu werden und die darin gespeicherten Erfahrungen früherer Inkarnationen in ihre neue Existenz zu integrieren und für ihre neuen Aufgaben nutzbar zu machen. Die unglaubliche Überzeugungskraft und Selbstsicherheit, mit der sie nach Pfingsten in die Welt hinausziehen – Thomas zum Beispiel nach Indien, Philippus nach Äthiopien, Petrus später nach Rom (in besonderer Autorisierung durch Jesus auch Paulus) – und dort ihrerseits Schüler gewinnen und Gemeinden gründen, spricht dafür, dass sie, wie ihr Meister, Herr über ihre ganze irdische Vergangenheit geworden waren und frei in ihrer Gegenwart auftreten konnten.
Der Christus Jesus jedoch benötigte diesen sterblichen irdischen Leib noch für andere Aufgaben. Er musste sich nach seiner Gefangennahme im Garten Gethsemane den weltlichen und geistlichen Führern stellen. Vor Pilatus zeugte er für die göttliche Wahrheit, die in ihm, Jesus, vollständig bewusst und wirksam geworden war. Doch Pilatus, Vertreter der weltlichen Macht und ganz mit ihr eins, war unzugänglich für diese Botschaft. Er konnte zwar die göttliche Wahrheit in Jesus nicht erkennen, wusste jedoch, dass dieser nach den Maßstäben der weltlichen Macht unschuldig war. Er wich nur dem Druck der geistlichen Machthaber, als er Jesus zum Tod verurteilte. Die Vertreter der geistlichen Macht indessen konnten, gebunden an ihre Gesetzes-Dogmatik und die damit verbundenen Machtinteressen, unmöglich die Freiheit und das göttliche Bewusstsein erkennen, mit denen Jesus ihnen gegenübertrat. Sie verurteilten den „Sohn Gottes“ als anmaßenden Ketzer und Gefahr für ihre Privilegien, auch aus rein politischen Gründen als „Revolutionär“, der großen Anhang im Volk hatte, und, wie sie fürchteten, in einem Aufstand unbedacht die Römer ins Land ziehen könnte. Doch als Jesus ihnen Auge in Auge gegenübertrat, wirkte seine göttliche Kraft als karmischer Stachel in ihnen, den sie niemals wieder loswerden würden – bis sie in einem späteren Leben vielleicht doch Einsicht gewinnen würden.
Auch in Herodes Antipas, dem Fürsten von Galiläa, der sich töricht an dem seltsamen religiösen Fanatiker Jesus ergötzen wollte und ihn nur verspottete (Lukas 23, 11), würde die Ausstrahlung des Christus Jesus in allen zukünftigen Inkarnationen wirksam bleiben. Und der intelligenteste Jesus-Schüler, Judas, der den Meister für seine eigenen Machtphantasien einspannen wollte, fiel nach der Beseitigung seiner Illusionen durch das unerwartete Verhalten des Meisters in eine völlige innere Leere, die ihm, wenigstens in der damaligen Inkarnation, alle Lebenskraft und -hoffnung raubte.
Jesus musste jedoch mit dem ihm verbliebenen Rest seiner sterblichen Persönlichkeit noch weit mehr vollbringen! Er nahm die Feindschaft, den Hass, das Unverständnis und die Wankelmütigkeit seiner Anhänger im Volk wahr und ertrug es ohne Murren, erlitt Marter und Tod am Kreuz – alles, um gerade durch diese unmittelbare Begegnung zwischen dem Hass der Umwelt und seiner göttlichen Liebe auch in den Hassenden seine göttliche Liebe zu verankern. In den drei Tagen im Grab baute er endgültig seine volle, unsterbliche Geistseelen-Gestalt auf, nachdem er auch ins Jenseits hinabgestiegen (1. Petrusbrief 3, 19) und sich vollständig von der sterblichen Restpersönlichkeit gelöst hatte. Die sterblichen Teile blieben mit ihren „zusammengewickelten Binden“ (Johannes 20, 6-7) im Grab noch für eine Weile zurück.
All dies tat Jesus nicht auf „Befehl seines Vaters“, um dessen „Zorn“ zu besänftigen. Er tat es nicht, um den an ihn glaubenden Menschen das ewige Leben zu schenken. Er tat es, um ihnen einen befreienden Weg zu ermöglichen, den sie auch wirklich gehen mussten, wenn sie die Wiedervereinigung mit dem „Vater“ erleben wollten. Er nahm die Enttäuschung auf sich, dass viele diese Möglichkeit nicht wahrnahmen und lieber weiter im Gefängnis der irdischen Welt und des Todes sitzenbleiben wollten.
Seine allmählich wieder auflebende Gottesgestalt hatte größere Schmerzen zu erdulden als seine irdische Persönlichkeit. Denn seine Feinde verfolgten weniger seine Persönlichkeit, als diese Gottesgestalt, ihre Kraft und ihre Ausstrahlung, die sie nicht ertragen konnten und in der seine Persönlichkeit wirkte. „Sieh in mir das Durchbohren des Logos (des Geistes), dann wirst du den Herrn (die Seele) erkennen, und als drittes den Menschen (den Körper), und was er litt!" heißt es in einem gnostischen Text (den Johannesakten).
Jesus hat sich durch sein Leben in der irdischen Welt karmisch so an diese gebunden, dass er weiterhin mit ihr verbunden bleiben muss, bis der letzte irdische Mensch wieder zu Gott zurückgefunden hat. Das ist das Liebesopfer, das er gebracht hat und noch bringt – nicht auf Befehl eines grausamen Vaters, sondern aus Liebe und in Übereinstimmung mit dem liebenden Willen des auch in ihm selbst wirkenden Elohim-Vaters.
Warum also sollte der Gläubige möglichst intensiv das freiwillige Opfer von Jesus nacherleben, sich in dessen Leiden versenken und dadurch Schmerz erleiden? Er hat doch die Aufgabe, den von Jesus gebahnten Weg zur Befreiung selbst zu gehen, mit den zwar auch damit verbundenen Leiden. Aber sich in die Leiden eines anderen meditativ zu versenken, ist nur eine andere Art, den Weg nicht gehen zu wollen oder sich über die Art der eigenen Mitarbeit zu täuschen, um den Weg nicht selbst gehen zu müssen. Der heutige Schüler wird die Symbole des Leidens nicht mehr so hoch einschätzen, die doch nur die Illusion unterstützen, durch selbst auferlegtes Leiden käme er der Erlösung näher! Wenn schon Symbole für die Gläubigen notwendig sind, dann sollte es die Liebe selbst in Gestalt des befreiten, befreienden oder bei der Befreiung helfenden Jesus sein.
Der nächste Brief wird Gedanken über den Auferstehungsleib des Christus enthalten.
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