04.06.21

Gnostisches Christentum - Forum für ein gnostisch-rosenkreuzerisches Christentum - 8 Brief


 Briefe zum gnostischen Christentum

                         „Kommt und seht selbst!“ (Johannes 1,39)

8. Brief  München, Juni 2021

 

Drei Mal erklärt Jesus in jedem der drei synoptischen Evangelien (Matthäus 16, 21; 17, 22-23; 20, 17-19, Markus 8, 31-33; 9, 30-32; 10, 33-34, Lukas 9, 22;  9, 43-45; 18, 31-34) in ziemlich gleichlautenden Worten seinen Schülern, er werde demnächst nach Jerusalem gehen müssen, dort getötet werden und auferstehen. Die dritte Ankündigung zum Beispiel bei Markus, lautet: „Siehe, wir ziehen hinauf nach Jerusalem, und der Sohn des Menschen wird den Hohenpriestern und Schriftgelehrten ausgeliefert werden, und sie werden ihn zum Tod verurteilen und ihn den Heiden ausliefern … und nach drei Tagen wird er auferstehen“ (Markus 10, 33-34). 

 

Auf diese Weise heben die drei Evangelisten hervor, dass Jesus absichtlich nach Jerusalem gehen will, obwohl er voraussieht, dass er dort getötet werden wird. Die erste Ankündigung macht Jesus jeweils nach einer Szene, in der Petrus als Wortführer der Schüler erkannt hat: „Du bist der Christus (Messias)“ (Markus 8, 29; Matthäus 16, 16; Lukas 9, 20). Diese Szene beweist, dass die Schüler der Geistsesschule von Jesus bis zu einem Bewusstsein gelangt waren, in dem sie das Wesen ihres Meisters erkennen konnten. Dieses Bewusstsein musste ähnlich dem seinen sein, sonst hätten sie es nicht erkennen können. Seine Bemühungen, eine Geistesschule aufzubauen, hatten also Erfolg gehabt. Die Schüler waren so weit gekommen, dass sie einigermaßen selbstständig ihren Weg weitergehen konnten. Das bedeutete, dass sich Jesus, nachdem er eine entscheidende Aufgabe seines Lebens erfüllt hatte, anderen, ebenso entscheidenden Aufgaben zuwenden konnte: Auf der Grundlage der auf seinem Weg bis zu einem gewissen Grad durchgeführten Transfiguration musste er jetzt die irdischen Mächte der Welt und den irdischen Tod überwinden.

 

Man könnte fragen; Warum ist denn Jesus nicht in Galiläa bei seiner Schule geblieben, um seine Schüler in aller Ruhe weiter auf ihrem Weg zu begleiten und selbst ungefährdet bis zu einem seligen Tod weiterzuleben? Die Frage wurde im Lauf der Jahrhunderte bis zur Gegenwart noch weiter zugespitzt: War Jesus nicht ein Selbstmörder, da er doch wusste, was ihm in Jerusalem bevorstand, und sich trotzdem dorthin begab? Musste er nicht, wenn er sich dort mit den geistlichen Führern auseinandersetzte, damit rechnen, dass ihn diese wegen seiner Provokationen töten würden? War er nicht also selbst schuld an seinem Tod?

Traditionelle Theologen pflegen auf diese Frage zu antworten: Jesus hatte als Gottessohn von seinem Vater den Auftrag erhalten, die Menschen von der Knechtschaft unter den irdischen Mächten und vom Tod zu erlösen. Er sollte die „Strafe Gottes“, den Tod, welchen die Menschen wegen ihrer Sünden verdient hatten, stellvertretend auf sich nehmen, um so den Zorn Gottes zu versöhnen. Dadurch tat er der Gerechtigkeit Gottes Genüge und schuf der Gnade Gottes freie Bahn, die in Zukunft allen Menschen, die an diese Lehren glaubten, das ewige Leben am Jüngsten Tag schenken würde. Er, Jesus, hatte durch ein Wunder seines Vaters den Tod überwunden, war auferweckt worden, und würde später seinen gläubigen Anhängern die Erlösung vom Tod und von den irdischen Mächten schenken. – Dass bei einer solchen Anschauung die „Liebe“ Gottes, der seinen eigenen Sohn opfert, um die Sünder zu erlösen, in keinem guten Licht erscheint, liegt auf der Hand. Auch werden die Menschen, wenn sie das ewige Leben nur auf Grund ihres Glaubens an die „Heilstatsachen“ und der zusätzlichen Erfüllung einiger ritueller Bedingungen geschenkt bekommen, den eigentlichen Weg des Christentums nicht mehr kennen und  gehen, der in freier Mitarbeit mit dem Meister zur Überwindung des Todes und der Welt führt. Und nur ein solcher Weg, in Freiheit gegangen, entspricht der Würde des Menschen als eines „Ebenbilds Gottes“ (1.Mose 1, 26)

 

Wer Jesus und sein Leben beurteilen will, muss von anderen Maßstäben als der gläubige oder der wissenschaftliche Ich-Mensch ausgehen. Er muss sich einen Seins- und Bewusstseinszustand vorstellen können, den Jesus verkörpert und gelebt hat, und den er auch uns Heutigen ermöglichen will. In diesem Seinszustand gibt es keine Absichten des Ichs, die rational oder intuitiv durchgesetzt werden sollen. Da ist nur Einklang mit der ursprünglichen göttlichen Ordnung, Einsicht in die Notwendigkeit, diese Ordnung zu verwirklichen, und ein ihr gemäßes Handeln, das sich aus den gegebenen Umständen mit Notwendigkeit und zum richtigen Zeitpunkt ergibt.

Wer in diesem Sein und Bewusstsein lebt, verwirklicht ohne Ich-Absichten und ohne Berechnung die göttliche Ordnung, die durch Liebe, Freiheit und Weisheit bestimmt ist. Für den Ich-Menschen ist ein solcher Zustand schwer zu verstehen. Doch nur wenn man ihn versteht, wird man Jesus und sein Handeln verstehen, verstehen, warum er nach Jerusalem zog und den feindlichen irdischen Mächten und dem Tod ins Auge sah. Es war weder anmaßende Provokation noch ein auf Befehl Gottes zu erleidender stellvertretender Tod. Es war eine innere Notwendigkeit für Jesus. Es war der „Vater“ in Jesus, in dessen Kraft und Liebe er seinen Weg ging und seine Aufgaben erfüllte.

Schon die Inkarnation einer unsterblichen Wesenheit in den sterblichen Menschen Jesus war der erste Schritt, diese Notwendigkeit zu vollziehen. Der zweite Schritt war der Aufbau einer Geistesschule, nachdem Jesus in der Feuertaufe (Markus 1, 10-11) durch den Heiligen Geist die dazu notwendigen Kräfte und Erkenntnisse erlangt hatte. Von da an wirkte er in einem dritten Schritt mit göttlichen Kräften in der irdischen Welt und machte gegenüber den Ich-Menschen, den geistlichen Führern der Juden, die Maßstäbe deutlich, die das Handeln eines ursprünglichen Menschen leiten. Er entlarvte deren relative Ich-Maßstäbe, die niemals dauerhafte Lösungen bringen. Das tat er genau zum richtigen Zeitpunkt. Da überlegte er nicht, ob er Hass oder Widerstand erregte. Die Konfrontation musste zu diesem Zeitpunkt der Entwicklung der Dinge mit Notwendigkeit erfolgen, was auch immer sich daraus ergeben würde.

Der vierte Schritt im Zuge der inneren Notwendigkeit, der letzten Endes die Befreiung der gequälten Menschheit von Tod und irdischen Mächten zur Folge haben würde, war, die göttliche Liebe bis zum Tod und noch im Tod am Kreuz wirken zu lassen.

 

Als sich Jesus mit seinen Schülern Jerusalem näherte, ging ihm beim Volk der Ruf voraus, der lang erwartete Messias zu sein. Seine Worte und Taten hatten ihm diesen Ruf verschafft, seine Taufe mit dem Heiligen Geist am Jordan hatten die Kräfte des ursprünglichen Menschen, der als Ebenbild Gottes lebt, in ihm wieder hergestellt. Und dieses Muster des ursprünglichen Menschen, erfüllt von hoher Weisheit, Selbstständigkeit, Menschenkenntnis und Menschenliebe, ritt nun auf einem „Esel“ in Jerusalem ein. „Esel“ bedeutet: Jesus wurde von seiner Hingabe an den Vater getragen, nicht von seinem Stolz auf sich selbst, In diesem Fall wäre er auf einem „Ross“ geritten“. Diese Eigenschaft der selbstlosen Hingabe wurde schon beim Propheten Sacharja dem Messias zugeschrieben. Deshalb steht diese Geschichte bereits bei Sacharja und wurde von den Verfassern der Evangelien nur benützt, um den aktuellen Messias zu charakterisieren. Jesus muss nicht wirklich auf einem Esel in die Stadt geritten sein. Auch die Palmzweige, welche die Menschen vor ihm ausbreiten, sind im Alten Testament präfiguriert (2.Könige 9, 13).

Ebenso wurde der aktuelle Messias von den Evangelisten durch eine im Alten Testament vorgebildete Szene beschrieben, in der er als Reiniger der Religion auftritt. Bei dem Propheten Jeremia fragt Gott: „Ist denn dieses Haus, das nach meinem Namen genannt ist, in euren Augen eine Räuberhöhle geworden?“ (Jeremia 7, 11). In diesem Sinn fragt Jesus, der aktuelle Messias: „Es steht geschrieben: 'Mein Haus soll ein Bethaus sein', ihr aber macht es zu einer Räuberhöhle“ (Matthäus 21, 13). Vielleicht hat Jesus die Tische der Wechsler und Händler im Tempel tatsächlich umgestoßen. Aber entscheidend an dieser Szene ist, dass sie eine weitere Eigenschaft des Messias zeigt: sein Wesen als das eines Menschen, der weiß, was Religion wirklich ist und sein soll: ein Weg zur verlorenen Einheit mit Gott. Zu allen Zeiten haben die Vertreter der offiziellen Religion diese dazu benützt, Geschäfte mit ihr zu machen. Und dieses Verständnis von Religion und das daraus folgende Handeln hatte Jesus stets mit scharfer Kritik und Ablehnung gekennzeichnet, was die Evangelisten später in diese konkrete Szene kleideten.

Wesentlich ist jedenfalls, dass er das Verhalten der religiösen Führer, der Schriftgelehrten und Pharisäer, deutlich beim Namen nannte und sie vor den Folgen dieses Verhaltens warnte. Als Verkörperung des wahren Menschen hatte er die Legitimation dafür. Seine „Weherufe“ über die geistlichen Führer entlarvten deren scheinheilige Frömmigkeit bis auf den Grund, unter der sie ihre irdischen Machtinteressen verfolgten und das ihnen anvertraute Volk knechteten. Zum Beispiel rief Jesus: „Wehe euch aber, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, dass ihr das Reich der Himmel vor den Menschen zuschließt. Denn ihr kommt nicht hinein, und die, welche hinein wollen, lasst ihr nicht hinein.“ Oder: „Wehe euch, dass ihr die Häuser der Witwen aufzehrt und dabei zum Schein lange Gebete sprecht“ (Matthäus 23, 13). Oder: „Wehe euch, dass ihr geweißten Gräbern gleich seid, die auswendig schön scheinen, inwendig aber voll von Totengebeinen und allem Unrat sind“ (Matthäus 23, 27).

Wusste er nicht, dass er sie damit provozierte und ihren Hass hervorrief? Natürlich wusste er es. Und trotzdem handelte er so als einer, der wusste, was der Sinn von Religion ist: den Menschen zu Gott zu führen. Von diesem Bewusstsein aus legte er ihr Verhalten bloß. Das war Bestandteil seiner Aufgabe: mit un-irdischer Kraft der Welt das ursprüngliche, wahre Menschentum vor Augen zu führen, die es schon lange vergessen hatte. So etwas musste einmal wieder geschehen, damit die Menschen ein Stück Wahrheit und Ehrlichkeit wiedergewinnen konnten. Das war Jesus wichtiger, als die Folgen zu bedenken.

Das Volk interpretierte dieses Verhalten so, dass Jesus als politischer Messias und König das alte Davidsreich wieder herstellen wollte. Jesus dagegen kam es darauf an, die Menschen an ihre Würde als Ebenbilder Gottes zu erinnern und ihnen durch seine Kraft Mut zu geben, wieder nach dieser Würde zu streben. Er war kein politischer, sondern ein geistiger Messias, das Muster eines Ebenbilds Gottes. Er wollte den Menschen in seiner Person die Eigenschaften eines Ebenbilds Gottes wieder zeigen, zu dem sie alle berufen sind.

Vor seiner Gefangenahme rief er noch einmal die Schüler seiner Geistesschule  zusammen, um ihnen im „Abendmahl“ seine Seelenkraft – sein „Blut“ –, und  seine Seelensubstanz – seinen „Leib“ – mitzuteilen und sie aufzufordern, auch in Zukunft aus seiner Seelenkraft und Seelensubstanz zu leben und seinem Weg zu folgen.

 

Danach war der Augenblick gekommen, da Jesus den letzten Teil seiner Aufgabe erfüllte. Er hatte seine un-irdische Kraft bewiesen, den geistlichen Führern ihre Erbärmlichkeit vor Augen gehalten und in seinen Anhängern eine ähnliche Kraft geweckt, mit der sie in Zukunft freier als bisher den irdischen Machthabern entgegentreten konnten.

Als er nun gefangengenommen wurde, ließ er es widerstandslos geschehen, um den letzten Teil seiner Aufgabe erfüllen zu können. Er hätte es nicht geschehen lassen müssen. Sagte er nicht bei dieser Gefangennahme zu Petrus: „Meinst du, dass ich nicht meinen Vater bitten könnte, und er würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel an die Seite stellen?“ (Matthäus 26, 53) Das Volk jedoch konnte nicht begreifen, dass ein Messias sich gefangennehmen ließ. Die Erwartung des Volkes wurde bitter enttäuscht, und das nützen die geistlichen Führer aus. Sie hetzten das Volk auf, vom römischen Statthalter die Kreuzigung des „falschen“ Messias Jesus zu verlangen: „Kreuzige ihn!“

 

Der letzte und vierte Schritt der Aufgabe, die Jesus von einer inneren Notwendigkeit, vom inneren “Vater“, gestellt wurde, bestand darin, dass er die un-irdische Liebeskraft, die ihn erfüllte, in anderen Menschen erweckte. Auch in ihnen als den ursprünglichen Ebenbildern Gottes lag diese un-irdische Liebeskraft, noch unwirksam, verborgen. Sie allein konnte die Menschen – seien es die Führer, seien es die Geführten – auf Dauer aus ihrer Unselbstständigkeit und ihrem Machtwahn erlösen. Sie musste wirksam werden. Das war nur dadurch möglich, dass die von Jesus freigesetzte Liebeskraft von ihnen aufgenommen oder, wenn sie ihr feindlich widerstanden, als ständiger Stachel im Fleisch erlebt wurde. Hass gegen den wahren Menschen bindet fast unauflöslich an ihn und ermöglicht auf lange Sicht doch die Wirksamkeit der Liebeskraft.

 

Der Teil der ursprünglichen Menschheit, der sich vor Urzeiten von Gott getrennt hatte und eigene Wege gegangen war, war in einen erbärmlichen Zustand geraten – wir sind es, die heute lebenden Menschen. Wir müssen auf Grund der Trennung von Gott in einem Bereich des Weltalls leben, in dem die Materie dichter ist als die göttliche Ursubstanz. Wir haben einen Körper aus dieser zu dichten Materie aufgebaut, der, nicht aufnahmefähig für feinere, Leben erzeugende Energien, dem Tod verfallen ist. Unsere Verhältnisse auf der Erde waren im Lauf der Zeit für uns selbst und für den ganzen Kosmos untragbar geworden. Wir werden ununterbrochen von Kriegen, Ungerechtigkeit und Epidemien heimgesucht und geben diese Konflikte an den Kosmos weiter. Das ist durch unsere Trennung von Gott, der die Menschheit und ihren jetzigen gequälten Wohnort Erde dennoch mit seiner Liebe am Leben erhält, verursacht worden.

Angst ist die Grundstimmung unseres Lebens, da wir, von Gott getrennt, die Einheit mit der Liebe des Schöpfers nicht mehr spüren und uns einsam ins Weltall geworfen fühlen. Angst erzeugt in uns das unwiderstehliche Begehren, alles zu besitzen und zu beherrschen, um Lebenssicherheit zu gewinnen – vergebliche Mühe. Denn in unserer Welt ist alles vergänglich, einschließlich sie selbst. Wir können den Dichtezustand unseres Wohnorts Erde und unsres Körpers aus eigener Kraft nicht mehr rückgängig machen. Aber nur, wenn das gelänge, könnten wir die Einheit mit unsrem Ursprung wiedergewinnen. Nur dann wäre der Tod und die Angst vor ihm, vor der Einsamkeit im All und vor den Mitmenschen aufgehoben.

Es fehlte den Menschen bis zu Jesus die Kraft, diesen Zustand zu ändern und die Einheit mit dem Ursprung wiederzugewinnen. Es fehlte ihnen die Grundkraft des ursprünglichen Alls, die Ursubstanz, die Liebe Gottes, aus der die ursprünglichen Menschen unsterblich lebten und leben. Diese göttliche Liebeskraft konnte und kann uns jetzt nur von seiten der ursprünglichen Welt wieder zugeführt werden.

Das war der Grund, weshalb ein Wesen der ursprünglichen Menschheit, die immer mit Gott vereinigt gewesen war, sich entschloss, der elend gewordenen Menschheit seine Liebeskraft zu bringen. Das war ein freiwilliger Entschluss, aus der ursprünglichen Liebe hervorgegangen, die dieses Wesen beseelte. Es befand sich im Einklang mit seinem Ursprung, mit dem „Vater“, der selbst die Liebe ist. Der „Vater“ gab diesem Wesen keinen Befehl zur Erlösung der von ihm getrennten Menschheit. Er wirkte als Liebe in ihm, und es war in Freiheit eins mit dem „Vater“, eins mit dieser Liebe. Später auf der Erde hieß dieses Wesen Jesus. Es inkarnierte in einen sterblichen Menschen, und ging einen Weg zum Wiederaufbau des unsterblichen Menschen und zur Auferstehung dieses Menschen. 

Mit Hilfe der ursprünglichen Liebeskraft konnte der sterbliche irdische Mensch, in den Jesus inkarniert war, vollkommen in einen unsterblichen Menschen verwandelt, „transfiguriert“ werden, und  der neue Mensch konnte vom Tod auferstehen. Er konnte sich mit der ursprünglichen Welt und ihrer Lebenskraft, mit Gott und seiner Liebe, wiedervereinigen.

Was Jesus mit Hilfe der ursprünglichen Liebe in seiner irdischen Inkarnation vollbrachte, das konnten, in der selben Liebeskraft, seine Schüler aller folgenden Zeiten nachvollziehen. Und so hatte Jesus die Möglichkeit geschaffen, dass jeder von Gott getrennte Mensch, wenn er in den Spuren des Meisters denselben Weg ging, einen unsterblichen Auferstehungskörper aufbaute und sich mit seinem Ursprung wiedervereinigte.

Wie aber konnte Jesus Menschen mit seiner Liebeskraft erreichen, die nicht bereit waren, darauf zu reagieren? Er musste auch die irdischen Mächte, die nur an Macht und Besitz dachten, mit dieser Liebeskraft zumindest „imprägnieren“. Das war der letzte Grund, weshalb er nach Jerusalem hinaufzog. Er musste den irdischen Mächten in seiner un-irdischen Kraft nicht nur ihre Verderbnis und Scheinheiligkeit zeigen. Er musste ihnen auch Auge in Auge, Liebeswort gegen Machtwort, Liebeskraft gegen Machtkraft konkret gegenübertreten. Dadurch würde er wenigstens, durch unmittelbaren Kontakt, eine Brücke für seine Liebeskraft bilden, um auch zunächst nicht positiv berührbare Seelen zu erreichen. Wenn ein Mensch vollkommen von dieser göttlichen Liebeskraft erfüllt ist, wie es Jesus war, dann geht von ihm eine Strahlung aus, die jeden Machtzustand „aufbricht“.

Die Liebe ist dann wie Wärme, die kaltes Eis Scholle für Scholle aufbricht. Oder, um ein anderes, irdisches Beispiel anzuführen: Arnold von Winkelried, ein Schweizer Fußsoldat des 13. Jahrhunderts, umfasste, als sein Heer auf ein feindliches Ritterheer stieß, die Spitzen einer Anzahl ihm entgegenstarrender Lanzen und zog sich das ganze Bündel in die Brust. Dadurch riss er, sterbend, eine Lücke in die feindliche Schlachtordnung, und die Schweizer gewannen die Schlacht. War das Selbstmord?

Ebenso war eine solche direkte, für ihn tödliche Konfrontation mit den Gegnern auch der einzige Weg für Jesus, in ihrem Machttrieb gefangene Menschen, die geistlichen Führer, wenigstens mit seiner Liebeskraft anzutasten, ohne ihre Freiheit einzuschränken. Und diesen Weg beschritt er, obwohl er wusste, dass sie ihn aus Hass und Zorn vernichten würden, weil sie ihre bisherige Lebensgrundlage bedroht sahen. Er nahm den eigenen Tod in Kauf, um durch seine Liebeskraft andere, und sei es erst nach langer Zeit, vom Tod zu befreien. Denn eines fernen Tages würden alle anderen Menschen, von dieser Liebe berührt, den Weg zurück zur Vereinigung mit dem Vater gehen. Sie würden einen dem Tod nicht mehr unterworfenen Körper entwickeln, und sie würden eine auf Liebe beruhende Gesellschaft und Weltgemeinschaft aufbauen, in der jeder frei seine ursprünglichen Eigenschaften verwirklichen könnte. Die Mächte der Welt, Konflikte und Kriege wären überwunden, ersetzt durch eine Gemeinschaft der freien, schöpferischen und liebenden Menschen unter einem „neuen Himmel“ und auf einer „neuen Erde“ (Offenbarung des Johannes 21, 1).

Jesus hatte keine Liebeskraft und schickte sie nicht anderen zu. Er war und ist Liebe, so wie sein Vater im Himmel unerschütterliche Liebe ist, die ohne Ich-Absichten in anderen wirkt, ob freundlich aufgenommen oder feindlich abgelehnt. In Gethsemane, noch vor der Gefangennahme, war diese Liebe in Jesus endgültig vom Selbsterhaltungstrieb des irdischen Körpers frei geworden. Sein restlicher Machtwille war dem Liebeswillen gewichen, und dieser hatte sich mit dem Liebeswillen des „Vaters“ vereinigt: „Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe.“ (Lukas 22, 42) Das zeigte sich am Kreuz, wo Jesus nur noch als Liebeswille wirkte, der den einen, bereuenden Übeltäter mit sich ins Paradies nahm, und der seinen Folterern vergab, weil sie nicht wussten, was sie taten. Auch diese Vergebung war kein Willensakt, sondern eine selbstverständliche Wirkung der Liebeskraft.

Damit bezeugte Jesus eine Haltung, die er gerade durch diese Haltung auch in anderen erweckte. Er verankerte seine Liebeskraft im Menschen und in der Welt, so wie es ihm die Notwendigkeit der Welt- und Menschheitsentwicklung im Innern aufgegeben hatte. Diese Notwendigkeit wirkte als göttliche Kraft, als der „Vater“, in ihm. Deshalb konnte er sagen „Ich und der Vater sind eins“ (Johannes 10, 30). Und: „Alles, was der Vater hat, ist mein“ (Johannes 16, 15). Er erfüllte diese Notwendigkeit, und nahm dabei in Kauf, dass er hingerichtet wurde. Er erfüllte sie auch nicht, um anderen zu zeigen, wie man als Christ mutig in den Tod geht. Er erfüllte sie, weil nur so der Tod und die Mächte der Welt überwunden werden konnten. Er gab dadurch anderen die Kraft, ihrerseits den Tod und die Mächte der Welt zu überwinden. „In der Welt habt ihr Angst. Aber seid getrost – ich habe die Welt überwunden“ (Johannes 16, 33). Dadurch könnt auch ihr in den Liebeskräften Gottes Tod und Welt überwinden.

Jesus gab keine neue Religion mit Dogmen, an die man glauben müsste. Er erweckte in seinen Schülern die un-irdische Liebeskraft, in der der eigentliche Lebenssinn und die eigentliche Lebensaufgabe des Menschen enthalten sind. Vorläufig besteht diese Lebensaufgabe noch darin, wie Jesus selbst einen Weg zur Befreiung des göttlichen Geistkerns aus der Gefangenschaft im machtbewussten Ich zu gehen. Daraufhin wird der so befreite wahre Mensch seine Aufgabe im All in der selben Liebe wie sein Meister erfüllen.

 

 

 

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